Nicht völlig überraschend hat Premierminister Erdoğan gestern abend den Zugang zum sozialen Netzwerk Twitter in der Türkei blockiert. Schon vor Monaten kündigte er diese Maßnahme “zum Schutz seines Volkes” an. Jede Menge Menschen demonstrierten wochenlang gegen die fortschreitende Zensur in der Türkei, die mit dem Blockieren von Twitter einen neuen Höhepunkt erreicht.
Zensur erfreut sich in diktatorischen Regimen oder solchen, die es werden wollen, einer konstant hohen Beliebtheit. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Als Mittel der Kontrolle, des Ausübens von Druck auf Kritiker und der Legitimation von Sanktionen gegen Einzelpersonen ist nichts so effektiv wie eine solide Zensur. Da braucht dann nicht mehr aufwändig gefragt werden, die Kritikerinnen wandern einfach direkt in den Knast. Wegen Spionage oder so. Ist ja eigentlich auch egal.
Es könnte dennoch gut sein, dass wir seit der immer stärkeren Etablierung sozialer Netzwerke – in der Türkei nutzen diesen Zahlen nach etwa 39% den Dienst Twitter – an einem Wendepunkt stehen. Und dass Erdoğan einer der ersten sein wird, die erleben, wie die Maßnahmen zur Unterbindung von Kommunikation keinen Kontrollgewinn, sondern einen weiteren Kontrollverlust darstellen. Denn die Menschen organisieren sich mithilfe von anderen Kanälen. Arbeiten an dezentralen Strukturen. Und auch Twitter selbst hat heute morgen sehr schnell reagiert:
Während der occupygezi-Proteste las ich diesen Blogpost, in dem Twitter als Werkzeug der Revolution vorgestellt wird. Ich dachte damals: Ja, genau das ist es! Heute möchte ich diese schnelle Bestätigung einschränken. Die Kommunikationskanäle, die uns vor allem in der Absicht, möglichst viele Daten über uns zu sammeln, zur Verfügung gestellt wurden, werden nur dort zu einem Mittel der Revolution, wo die herrschenden Strukturen beginnen, die Mehrheit zu unterdrücken. Soziale Netzwerke sind nicht per se subversiv. Das ist ein Missverständnis, dem auch Menschen wie Erdoğan aufgesessen sind. Soziale Netzwerke bieten uns die Möglichkeit, eine nie dagewesene Polyphonie zu hören – potentiell einfach alle Stimmen zur gleichen Zeit. Twitter ist also, mehrheitlich genutzt, nichts anderes als ein Werkzeug der Demokratie selbst. Dass lediglich die subversiven Elemente einer Gesellschaft sich über die Netzwerke organisieren, ist völliger Blödsinn. Dazu genügt ein Blick auf unsere Mediennutzung in den bisher noch leidlich funktionierenden demokratischen Systemen. Wir sind in Deutschland weit weg von Anarchierufen, Regimestürzen und Massendemonstrationen. Und das nicht nur, weil wir eventuell ein wenig träge sind.
Die Frage, die ich mir stelle, ist und bleibt aber: Was werden wir tun, wenn es bei uns so weit kommen sollte, dass man uns die Kommunikationsmittel unserer Zeit wieder wegzunehmen versucht? Werden wir den Hintern hochbekommen und den Rasen betreten? Und könnten wir das auch jetzt, im Rahmen unserer aktuellen Möglichkeiten, für die Türkei tun? Werden wir uns organisieren und weitere dezentrale Strukturen schaffen? Oder einfach noch ein paar Mal mehr “Man müsste mal” sagen?
Update vom 24. Juli 2016:
In der ursprünglichen Fassung dieses Artikels habe ich meine Hoffnung geäußert, mit Aktionen wie #twitterisblockedinturkey die letzten Handlungen eines Möchtegern-Diktators zu sehen. Daran ist aktuell nicht mehr zu denken. Seit dem Militärputsch säubert Erdoğan das Justizministerium, das Bildungswesen, das Militär und alles, was ihm sonst noch einfällt. Die Zahl der Verhaftungen und Suspendierungen gibt es bei den Krautreportern als ständig aktualisierte Liste. Zu den willkürlichen Verhaftungen hinzu kommen weitere Maßnahmen aus dem faschistischen Programm, wie das Erschweren der Aus- und Einreise. In meiner ausführlichen Rezension zu Naomi Wolfs “Wie zerstört man eine Demokratie” sind die Maßnahmen Erdoğans ausführlich vorweg genommen. Viele denken seit letzter Woche an die Parallelen zum Reichstagsbrand, fragen sich, ob zumindest Teile des Putsches inszeniert wurden, und was in den nächsten Wochen in der Türkei geschehen wird.
Durch die Verhängung des Ausnahmezustands für drei Monate ist es Erdoğan möglich, per Dekret zu regieren. Aktuell schließt er Schulen, Stiftungen und medizinische Einrichtungen. Im Programm einer faschistischen Verschiebung ist er so weit fortgeschritten, dass ich mich frage, ob er überhaupt an eine weitere Zensur von sozialen Medien denkt. Und wenn ja, ob die Bevölkerung der Türkei erneut die Kraft und den Mut hat, Sperren zu umgehen und Verbote zu missachten. Ich hoffe es sehr.
Weitere Artikel zu Erdoğans aktuellen Handlungen:
Spiegel: Das Ende einer Demokratie
Kommentar von Lenz Jacobsen zur aktuellen Situation
Die ZEIT über Demokratie und Freiheit in der Türkei
Weitere Artikel zu #twitterisblockedinturkey:
Spiegel: “Eine Attacke auf die Meinungsfreiheit, wie sie sonst nur Diktatoren wagen”
Thomas Stadler schreibt, die Internetsperre ist rechtswidrig
Die taz zu den Hintergründen von Erdogans Twitter-Block
Nochmal die taz. Ein paar hübsche Tweets aus der Türkei
Spiegel Online über den gewohnt kreativen Protest der Türken.
Eine Analyse von Lenz Jacobsen für die Zeit Online
(Bildquellen: https://storify.com/KURIERat/twitterisblockedinturkey, http://prezatv.blogspot.de/2014/03/twitter-twitterisblockedinturkey.html)
prokrastinix
Ich fürchte, dass wir über den Punkt, wo man uns dieses mächtige Kommunikationsmittel wegnehmen könnte, schon hinaus sind. Ist es nicht viel effektiver, genau diese leicht (?) zu überwachenden Kommunikationswege zu lassen, und ein Volk dadurch zu kontrollieren? Der türkische Geheimdienst verfügt sicher über ähnliche technische Möglichkeiten wie andere Dienste auch. Und irgendjemand wir dem Erdogan das auch sagen, falls der überhaupt noch für irgendwelche Meinungen von außen zugänglich ist.
junebug
Danke Dir für Deinen Kommentar!
Natürlich, so lange eine Regierung mehr Nutzen von der Kommunikation via soziale Netzwerke hat als Nachteile, ist es wahrscheinlicher, dass sie den Zugang nicht verhindert. Überwachung ist zwar dadurch natürlich möglich, aber Kontrolle gibt es über die öffentliche Kommunikation nur sehr stark eingeschränkt. Das, was den Menschen Angst macht, ist ja vor allem die Überwachung ihrer privaten Kanäle und die Sammlung von Metadaten. Wer Netzwerke wie twitter nutzt und halbwegs aufgepasst hat in den letzten Jahren, weiß, dass er nicht nur sehr viele Daten freigiebig in fremde Hände gibt, sondern sich in einem öffentlichen Raum befindet. Hierin besteht ein ganz wesentlicher Unterschied.
Die Vorteile der Kommunikation über die öffentlichen Räume überwiegen auch für uns bisher noch die Nachteile – eine irgendwie ironische Win-Win-Situation. Dieses Verhältnis kann aber jederzeit – und das sehen wir gerade an verschiedenen Stellen – kippen. Dann ist die Frage, wie wir uns schnell informieren, unterhalten und reagieren können. Dass wir dabei genau beobachtet werden, was selbstverständlich zu einem enormen Nachteil für uns alle sein kann, ist klar. Da gebe ich Deinem Einwand vollkommen Recht.
ClaudiaBerlin
Für mich zeigt die Aktion Erdogans vor allem wieder einmal die Robustheit des Netzes. Zig Möglichkeiten, so ein “Abstellen” zu umgehen, die auch schnell massenhaft genutzt werden. Wie ich las, gab es noch nie so viele in der Türkei abgesetzte Tweets wie am gestrigen Freitag!
Will man “effektiv” zensieren, braucht es wohl Eingriffe an den physischen Backbones – ich glaube, China hat sich das so eingerichtet, wenn ich recht erinnere.
Erdogan mangelt es offenbar an jeglicher Medienkompetenz – und so macht er sich wahrlich lächerlich mit seinen Tiraden gegen soziale Netzwerke.
Natürlich sind Twitter & Co, nicht “per se” subversiv – genauso wenig, wie es das Telefon nie “per se” war, das durchaus gelegentlich so genutzt wurde, Abhörgefahr hin oder her (z.B. mittels “Telefonketten”, die zu Demos aufriefen).
“Werden wir uns organisieren und weitere dezentrale Strukturen schaffen? ”
Danach, dass das alsbald nötig werden könnte, sieht es hierzulande nicht wirklich aus. Also wird sich da in nächster Zeit auch nichts tun. Ich wüsste z.B. auch nicht, mit wem ich mich “lokal” für was vernetzen sollte… Das war mal anders, als es nämlich in Berlin massive Probleme und Skandale rund um das Thema “Sanierung” gab. Da brannte das Wohnungsproblem vielen auf den Nägeln, was in einer – natürlich lokalen – Hausbesetzerbewegung kulminierte, die dann auch recht erfolgreich war.
Keine Ahnung, was passieren müsste, um heute Ähnliches anzustoßen! Mittlerweile sehen es Menschen schon als Risiko bzw. unzumutbare Last an, auch nur Pakete für den Nachbarn entgegen zu nehmen.
Aus der Google-Vervollständigung, mit der ich gestern spielte:
Männer sind Schweine,
Frauen sind dumm,
Väter sind Helden,
Mütter sind nervig,
Kinder sind…. (=von der Auto-Vervollständigung ausgenommen. Sic!)
Alte Menschen sind gefährlich.
Kleinkinder sind anstrengend.
Nachbarn sind zum ärgern da.
http://www.claudia-klinger.de/digidiary/2014/03/21/google-lyrics-katzen-sind/
Die Mitmenschen scheinen derzeit nicht gerade beliebt zu sein…
ClaudiaBerlin
…mit Ausnahme der Väter…
junebug
Ich habe Deine google-Lyrics sehr genossen und muss zugeben, dass mir erst jetzt durch Deinen Kommentar auffällt, wie viel Negatives die Suchanfragen beinhalten. 🙁
Vermutlich aber auch, weil es schlicht nicht meine Welt ist. Unsere direkte Umgebung ist das kinderreiche, gemäßigte Neu-Spießertum mit akademischem Hintergrund. Nicht gerade die Bombenleger von gestern, aber auch keine Menschen, die sich an der Anordnung der Mülltonnen, der Ordentlichkeit der Gärten oder der Lebensweise der kneipenbesitzenden Nachbarn stören. Eher im Gegenteil. Die Pakete für die gesamte Nachbarschaft nehme übrigens ich an, weil ich die einzige bin, die größtenteils zuhause arbeitet. Und das wissen auch Deutsche Post, DHL und Hermes 😉
Was mir durchaus Hoffnung macht, ist das folgende: Wann immer es in direkter Nachbarschaft irgend einen Konflikt gibt – vor kurzem ging es hier wegen einer nachts leuchtenden Rewe-Anzeige hoch her 😉 – sind unsere direkten Mitmenschen auf den Barrikaden und engagieren sich sehr stark für einen gemeinsamen Zweck. Dieser Zweck ist nicht unbedingt meiner, außer solidarisierende Aktivitäten ist da bei mir dann wenig Empörung zu holen. Aber sie tun etwas, sie sind wach, sie wollen mitbestimmen. Gut zu sehen, dass es diese aktive, grundsätzlich an Mitbestimmung interessierte Haltung bei recht vielen Menschen gibt. Vermutlich sehen viele davon die Umstände wie Du: In Deutschland ist es wohl kaum nötig (zu diesem Zeitpunkt), gegen wie auch immer geartete Zensur zu protestieren. Rainer aber gibt bei sich auf dem Blog zu bedenken, dass Maßnahmen wie die Beschneidung des Informationsfreiheitsgesetzes natürlich ganz klar in diese Richtung laufen. Den Post findest Du hier: http://koenig-haunstetten.de/2014/03/21/erdogan-schiesst-den-vogel-ab/ Und auch in diesem Zusammenhang ist das wachsame Mitverfolgen, das sich gedanklich damit beschäftigt-haben und das Vorbereitet-sein mE sehr, sehr wichtig. Wir können uns bisher glücklich schätzen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es manchmal nur 53 Sekunden dauert, bis der Wind sich entscheidend dreht 😉
Liebe Grüße an Dich und Danke für Deinen Kommentar!
Warum Väter so viel beliebter sind, erschließt sich mir nicht 😉 Witzig!
ClaudiaBerlin
Na, ist doch klar: jene Väter, die sich tatsächlich Elternzeit antun im Sinne von “sich durchweg ums Kind kümmern”, erleben zum einen, was das für ein Aufwand und Einsatz ist (und was für ein Glück!) . Sie sind also einerseits Pioniere in einem männer-untypischen Leistungssektor, der erst durch das Stress-Erleben der Männer in seinem Charakter als “Leistung” kollektiv akzeptiert wird. Oben drauf riskieren sie “soziale Probleme” unterschiedlicher Art, können sich also auch noch in der Arena spontanen “Standings” als Helden bewähren…
Mütter sind dagegen nur nervig! 🙂 Wie die mit ihren Bratzen umgehen, ist doch oft zum Haare raufen…. 😉
“Die Pakete für die gesamte Nachbarschaft nehme übrigens ich an, weil ich die einzige bin, die größtenteils zuhause arbeitet. Und das wissen auch Deutsche Post, DHL und Hermes”
Ist bei mir auch so! Wir sollten uns mal drüber austauschen und/oder beide drüber bloggen! Eine Lanze DAFÜR brachen und falsche Meme bekämpfen, wie etwa, dass man da Haftungsrisiken und dergleichen eingeht – und was dergleichen Ausreden mehr sind, um dem zufällig benachbarten Mitmenschen nicht ins Auge schauen zu müssen.
Im Rahmen der Spendensammelei fürs Formularprojekt hab ich dann sogar – nach Jahren der Enthaltung jeglicher “Verlinkung” meiner offline-Existenz im Haus und meiner Webwelt – allen einen mit etlichen persönlichen URLS versehenen Brief verteilt. Sinngemäß des Inhalts: Schenkt mir bitte keinen Kaffee und auch keinen Sekt, sondern SPENDET bitte hier… (plus Projektbeschreibung)
Ich bin mir sicher, einige sind der Bitte gefolgt!
kabukai
guter Beitrag!
junebug
Danke! Entschuldige das späte Freischalten, da war der Spamfilter mal wieder übereifrig 🙁