Ich habe eine neue Abkürzung erfunden*. Und weil ich behaupte, dass diese Abkürzung nicht nur meinen eigenen aktuellen Lebenszustand beschreibt, möchte ich sie verschenken. An alle, die ebenfalls an FOGO leiden. FOGO – das ist die „Fear of going on“. Die Angst, weiterzugehen.
In meinem letzten Blogpost erzählte ich etwas über meine derzeitige Lebenssituation. Genauer, über die Ratschläge, die mich erreichen. Allen guten Wünschen und Vorschlägen in einer Trennungssituation ist gemeinsam, dass sie die Zukunft in den Blick nehmen: „Es geht immer weiter. Mach was aus Deinem Leben. Jetzt kannst Du etwas Neues beginnen. Sieh nach vorne“.
Das ist alles auch prinzipiell richtig. Schließlich lässt sich die Zeit nicht zurück drehen. Also heißt es: Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Doch genau hier greift die FOGO.
FO | GO, die, fem., Abkürzung aus dem Englischen, lang: „Fear of going on“. Wird analog zur bekannteren FOMO gebildet, der „Fear of missing out“.
Während die FOMO auf die verstetigte Kommunikation, Information und Vernetzung durch die neuen Medien zurückgeführt werden kann und sich vor allem bei digital affinen Menschen beobachten lässt, betrifft die FOGO alle Altersschichten unabhängig von sozialem Status, Bildungsgrad und Geschlecht. Sie ist vor allem in Lebenskrisen präsent, macht sich vor gewichtigen Entscheidungen bemerkbar oder vor dem Übergang in eine andere Lebensphase.
Intensive FOGO führt häufig zu Übersprunghandlungen. Kennt Ihr aus dem Biologieunterricht noch das Bild von den kämpfenden Hähnen? Das stand für Folgendes: Wenn in einem Hahnenkampf der Flucht- und der Kampfreflex in einem Moment exakt gleich ausgeprägt sind, kommt es zu einer Übersprunghandlung. Die Hähne picken zum Beispiel auf dem Boden, als würden sie Futter suchen. Bei den Menschen sind unter anderem Prokrastination, gesellschaftlicher Rückzug oder sogar selbst schädigendes Verhalten Auswüchse dieser Übersprunghandlungen. Wir können uns nicht entscheiden, ob wir die Flucht antreten, kämpfen, uns tot stellen oder uns paaren wollen (fight, flight, freeze, flirt). Und so putzen wir Bäder als gäbe es kein Morgen, lesen das Internet leer, trinken zu viel und kultivieren auf diese Weise den Stillstand in der Aktion selbst. Die Amygdala, unser Angstzentrum, lässt grüßen.
Nichts davon ist neu, abgesehen von meiner Abkürzung. Die wird nämlich bisher falsch verwendet. Was sehr traurig ist. Denn FOGO ist keine Kleinigkeit. FOGO heißt, lieber im Stillstand verharren zu wollen als Neues zu beginnen. Lieber mit der Wolldecke auf der Couch zu bleiben und Netflix zu schauen, als aktiv zu entscheiden, wie das eigene Leben weitergehen soll. Kennt das nicht quasi jede*r?
Ernstzunehmende Symptome von FOGO sind spontane Absagen von Feiern und Treffen, das Nicht-Bewerben auf eine passende Stelle, mangelnder Einsatz im Beruf, wenn die Möglichkeit einer Beförderung oder Versetzung im Raum steht, das Nicht-Zutrauen des Alltags und das Fernhalten von Menschen, die uns potentiell nahekommen könnten. FOGO ist keine Depression oder Angststörung, die das Leben in einem erheblichen Maße einschränkt. Vielmehr verhindert FOGO auf subtilere Weise das Vorankommen, die persönliche Weiterentwicklung, das Sich-Einlassen auf Neues. Im schlimmsten Fall führt FOGO zu Blockaden. In einer schwächeren Variante trifft der*die von FOGO Befallene durchaus relevante Entscheidungen, ihm*ihr geht dabei jedoch jedes Mal der Arsch auf Grundeis. Oder er*sie fühlt sich dabei unzulänglich, verletzlich und überaus lächerlich. Nicht, dass ich mit Letzterem Erfahrungen hätte. Ich doch nicht …
Eine mir bekannte wirksame Kur gegen FOGO ist die bewährte, verhaltenstherapeutische Methode FEAR – „face everything and recover“. Das bedeutet, tatsächlich weiterzumachen oder weiterzulaufen, ganz gleich, was die FOGO uns einflüstert. Und uns danach eine Zeit zu erlauben, in der wir uns erholen können. Um dann erneut der FOGO die Stirn zu bieten. Gerade in Krisensituationen ist das eine große Aufgabe, denn in einer solchen zwingen wir uns, über Scherben zu laufen, wo Stillstand kurzfristig angenehmer und weniger schmerzhaft wäre. Und das barfuß. Autsch.**
Als Betroffene habe ich mir viele Gedanken gemacht, wie wir uns motivieren könnten, uns der FOGO zu stellen. Wie können wir gerade in Krisen die nötige Menge Energie aufbringen, um über die Scherben zu laufen und Neues in unser Leben zu lassen? Wie soll das gehen, dieses Nach-Vorne-Sehen, wenn der gesamte Raum in unserem Inneren mit dem Vergangenen besetzt ist und wir die FOGO bis in unsere Haarspitzen fühlen können?
Ich selbst habe darauf keine zufrieden stellende Antwort. Aber eine Liste. (Ich liebe Listen, die älteren unter Euch erinnern sich). Das Folgende und mehr wartet nämlich hinter der FOGO auf uns, wenn wir es nur wollen.
Eine andere Perspektive
Ein neues Terrain
Neue Aufgaben
Mehr Verantwortung
Mehr Leichtigkeit
Mehr Tiefe
Mehr Lebensfreude
Neue Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse
Weisheit und Gelassenheit
Stürme und Ruhe
Haufenweise beutelnde Emotionen
Menschen wie Du und ich
Menschen, die anders sind als Du und ich
Gespräche und Freundschaften
Noch einmal verliebt sein, noch einmal lieben
Eine aufrechte Haltung
Verletzt-Werden und Heilen
Das Leben.
Um als kleines Schlusswort noch einmal fünf Euro ans Phrasenschwein abdrücken zu müssen: Leben ist Veränderung. Pläne sind schon immer obsolet gewesen. Und hinter der FOGO ist lediglich das, was ohnehin jeder neue Tag für uns bereit hält: Etwas Unbekanntes.
“We will never stop, we’ll keep on moving forward. Even if we don’t know what we’re moving toward. They say life’s too short, but they’re wrong: It’s so long.” (Just Go On)
* das böse Internet behauptet, ich hätte diese Abkürzung nicht erfunden, und hinter „FOGO“ stünde die „Fear of going outside“. Damit hätte ich kein Problem, würde diese Langform von FOGO nicht viel zu kurz greifen. Denn das Problem ist ja nicht das „Außen“. Das Problem am „Außen“ ist das „Weiter“. So.
** eine weitere Methode ist Coaching. Der Mensch, den ich dafür empfehlen kann, nennt das Ganze nicht „FOGO“, sondern spricht vom Lösen innerer Blockaden. Sie ist trotzdem exzellent. Den Kontakt gibt es auf Anfrage.
Beitragsbild von pexels.com. Danke!
Juli
Liebe Julia,
das hast Du wunderbar beschrieben und ganz stark: ehrlich, verletzlich und genau dadurch so stark! Mir gehen hier gerade ein paar Dinge durch den Kopf, die ich Dir gerne mitgeben will:
Liebes-/Trennungskummer hängt meist zusammen mit Wunschvorstellungen, die nicht mehr da sind oder nie da waren. Diese Vorstellungen von sich selbst und dem gewohnten Leben zu verlieren, ist sehr schmerzhaft und löst dann die Trauer aus. Das führt spannenderweise auf neurobiologischer Ebene zu einem Abfall von Oxytocin und auf Dauer zu einem Cortisol-Anstieg – und genau das führt zum Energieverlust. Es ist also kein Wunder, dass dann FOGO auftaucht!
Neuorientierung kostet Kraft, ganz besonders wenn sie nicht frei gewählt ist. Und noch mal mehr, wenn nicht klar ist, wohin es nun gehen soll. Und noch mal mehr (!), wenn dazu noch emotional etwas verdaut werden muss, denn Dein Gehirn nimmt Seelenpein wie körperlichen Schmerz wahr. Nicht optimal für Jobwechsel, munteres Umschauen und Überlegen, Weggehen und neue Menschen treffen… Genau so, wie Du es beschreibst.
FOGO kommt, wenn Du bzw. Deine Umgebung erwartet, dass bitte alles gleichzeitig oder schlicht zu früh wieder gut sein soll. Bei einem Todesfall gibt es meist ein klein wenig länger Verständnis, aber auch da (und da unterscheiden sich die Verluste gar nicht so sehr) kommt irgendwann der Punkt, an dem es doch jetzt bitte mal wieder gut sein und weitergehen soll.
Eine Trennung ist auch ein kleiner Tod, denn auch sie wirft Dich ja buchstäblich aus der bisher gewohnten Identität – also allem, was Dir vertraut, bewährt, nicht immer schön aber gewohnt ist. Das ist „neu“ im Übermaß! Neu bedeutet aber immer auch fremd, ungewohnt und somit potentiell gefährlich. Und das versetzt Deine inneren „Bodyguards“ in ständige Alarmbereitschaft: verdammt anstrengend! In solchen Situationen ist es nicht nur menschlich, sondern tatsächlich eine gute Überlebenstaktik, auf Sparflamme zu gehen.
Sei etwas milde mit Dir – oder auch die Anderen, die gerade mit FOGO kämpfen. Erinnerst Du Dich an den Eisberg? Ganz viel auf der rechten Seite… schwimm Dich nicht müde gegen die Strömung, sondern lass Dich noch ein wenig treiben. Dann treibt es dich in einem etwas weiteren Bogen wieder an Land! Und wenns gar zu anstrengend wird, haben wir auch noch ein paar Schwimmringe und Flossen für Dich.
Fühl Dich umarmt,
Juli
Rainer
Ich weiß, ich habe Dir versprochen mir keine Sorgen zu machen darum will ich versuchen mir keine Sorgen zu machen, auch wenn es schwer ist nach so einem Blogartikel. FOGO, ja, das ist doch ein alter Bekannter. Immer wenn wir vor einer “einschneidenden” Veränderung in unserem Leben stehen kommt diese Furcht vor dem Neuen das uns da erwartet. Das Wichtige ist, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass nur weil unser Netzwerk an einer Stelle plötzlich einen Riss hat es trotzdem noch da ist und wir auf dem Weg ins Unbekannte nicht alleine sind. Du bist nicht allein, wann immer Du Rat, Trost, eine Umarmung oder was auch immer brauchst werden Freunde für Dich da sein, die Dir das gerne und bedingungslos geben werden. Dein Wert als Mensch ändert sich nicht, nur weil eine der Umgebungsvariablen plötzlich ihren Wert verändert hat (sorry für das Informatiker-Sprech). Und letztlich muss klar sein, es geht in Richtung Zukunft, ob Du nun Angst davor hast oder nicht. Also muss die Frage erlaubt sein, ob es besser ist der FOGO nachzugeben und den Kopf nach Vogel-Strauß-Taktik in den Sand zu stecken oder ob es nicht vielleicht sinnvoll ist, aktiv den Kurs in Richtung Zukunft zu bestimmen?
So, und jetzt mache ich mir keine Sorgen mehr, denn ich hoffe dass ich ein wenig postive Energie zu Dir schicken konnte und Du das doofe FOGO-Monster besiegen kannst. Ich glaube fest an Dich. <3
Ina
Ein toller Beitrag. Offen, ehrlich und einfach wunderbar geschrieben. Mach weiter so!