Alles geht vorbei.
Körper, Gedanken, Leid, Glück.
Ephemera.
Februar 2024
Manchen Menschen fliegt die Liebe einfach zu.
Scheinbar mühelos haben sie ein stabiles soziales Netzwerk, Freund*innen, die sich um sie bemühen, treue Partner*innen, die an ihnen festhalten – durch jede Krise, jede Entwicklungsstufe. Scheinbar mühelos navigieren sie die Veränderungen, Verluste, Enden und Neubeginne. Zumindest sieht es von außen so aus.
Vielleicht sehe ich selbst von außen so aus.
Im Inneren ist es ganz anders.
Nach langem Schweigen irgendwo beginnen
Mein Jahreswort für 2024 ist „Neuland“. Es ist kurz nach Silvester genau so zu mir gekommen, wie viele meiner Eingebungen zu mir kommen: Unverhofft und weitgehend ungefragt, während einer Meditation. Wenn ich mich darauf konzentriere, alles wegfallen zu lassen und das ständige Geschnatter, das ich in meinem Kopf selbst generiere, leise zu drehen, sitze ich da und sehe Bilder von Pfaden, die vor mir leuchten, oder von Bergen, die mir eine Botschaft zuraunen, oder von sonst irgend etwas, das ich mit niemandem teilen kann, denn wer hält mich dann noch für zurechnungsfähig. Dann sehe ich Wörter. Ich höre sie nicht, sie stehen da herum, in Großbuchstaben, mitten in der Landschaft. Ich weiß noch, dass die Buchstaben von „Neuland“ weiß waren, auf einem grünen Rasen standen und einen leichten Schatten warfen.
Neuland.
Was ich damals bereits wusste: Es wird das Jahr der Abschiede werden. Denn nicht immer kommen Abschiede vollkommen überraschend. Manchmal kündigen sie sich an. Eine Trennung vom Partner, die immer absehbarer wird. Noch voller trügerischer Hoffnung, sie möge abwendbar sein. Ein Kind, das sein eigenes Leben beginnt. Den Abschied noch hinauszögernd, noch unentschlossen gegenüber den Möglichkeiten der Welt. Eine Freundin, die sich entschließt, keine weitere Chemotherapie zu erdulden. Noch klar in ihren Aussagen, noch so präsent, unendlich willensstark. All diese Abschiede: Kommende Ereignisse, die der Jahreswechsel wie bereits bekannte Schatten vorauswarf. Dann trafen sie ein, eines nach dem anderen und alle zugleich. Und auf keines davon war ich im Mindesten vorbereitet.
Die Tochter
Es gibt eine Folge in der Serie „Modern Family“, in der Jay beschreibt, was Elternschaft bedeutet. Sie geht sinngemäß so:
„Erst lernst du ein Baby kennen und verliebst dich. In seine weichen, dicken Wangen und sein Lachen. Dann ist dieses Baby weg, aber das macht nichts! Denn an seiner Stelle ist ein entzückendes Kleinkind. Das wird größer und irgendwann ist das Kleinkind weg, aber es macht Platz für ein Kind, das spricht. Das dich fasziniert mit seinen Aussagen und seiner Sicht auf die Welt. Und dann kommt der Tag, an dem all diese Kinder, in die du dich verliebt hast, gemeinsam aus der Tür hinausgehen.“
Vor kurzem habe ich meine 19-jährige aus dieser Tür gehen sehen. Sie wird die kommenden Monate in den USA arbeiten und danach studieren. Und auch wenn ich auf diesen Tag hingearbeitet habe, auch wenn ich unglaublich stolz bin: Ihr Zimmer ist leer, ihr Lachen, Fordern, Witzeln, Granteln nicht mehr Teil meines Alltags. Mein erstes Kind, eine meiner drei größten Lieben, sechs Zeitzonen von mir getrennt. Ich hier.
Der Lebenspartner
Ich hatte nicht viele Beziehungen und war dennoch die allermeisten Jahre meines Erwachsenenlebens Teil eines Paares. Dabei musste ich bereits mehrfach jemanden gehen lassen, der mir alles bedeutet hat. Gelernt, mich wirklich und wahrhaftig zu trennen, habe ich allerdings nie. Wie ein Schatten, wie eine vertraute Melodie blieben die Menschen bei mir. Während andere sich von ihren ehemaligen Partner:innen abgrenzten, sich im wahrsten Wortsinne „trennten“, trug ich selbst in größtem Schmerz und tiefster Verletzung einen Teil meiner vergangenen Beziehung mit mir herum.
Dieses Mal, dachte ich mir, ist es anders. Dieses Mal bin ich erwachsen, wir sind nicht durch gemeinsame Kinder verpflichtet, dieses Mal ist die Trennung das Ergebnis eines langen Prozesses. In dem beiden Seiten klar wurde: So geht es nicht mehr. Dieses Mal ist es okay, wird es okay sein.
Seit Monaten leide ich unverändert. Finde keine Antworten auf die immer gleichen Fragen. Sitze mit Selbstzweifeln. Denke, dass es meine Schuld ist. Oder mein Charakter. Bin letztlich überzeugt: Es ist eine Mischung aus beidem. Und ertrage die Traurigkeit über nicht-eintreffende Nachrichten und den Schmerz über den Verlust eines Menschen, der mich bei den vielen Abschieden dieses Jahres hätte begleiten können – anstatt einer davon zu sein.
Ich: So viel zu geben
Du: So viel zu erleben
Wir: Unmöglich.
Juni 2024
Die Freundin
Abschiede können temporär sein. Andere sind so endgültig wie die Diagnose meiner Freundin. Kennengelernt haben wir uns im Internet. Als Bloggerkollegin habe ich sie jahrelang gelesen, haben wir gelegentlich gegenseitig kommentiert. Dass sie ganz in der Nähe lebte, habe ich erst spät erfahren. Dann aber war bald klar: Die gemeinsame berufliche Ausrichtung kann hervorragend in einer gemeinsamen beruflichen Unternehmung münden.
Wenige Monate, nachdem sie als dritte Geschäftsführerin zu uns in unsere kleine Agentur kam, wurde bei ihr ein Leberzellkarzinom entdeckt. Sie war zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt, ihre drei Kinder irgendwo zwischen fünf und zwölf. Und obwohl ihr die erste OP das Leben rettete, und obwohl sie die kommenden Therapien über sich ergehen ließ: Ab einem gewissen Zeitpunkt war klar, der Krebs wird sie töten. Leider nicht erst in vielen, vielen Jahren, sondern sehr bald. Ihre Entscheidung, mit den wirkungslosen Therapien aufzuhören: Verständlich, und doch schwer zu ertragen. Das Begleiten, das Am-Bett-Sitzen, das Halten und Aushalten: Ein wundervolles Geschenk, Schwere und Leichtigkeit, unerträglich und unendlich wertvoll.
Vergangenen Samstag wurde sie beigesetzt. Die Trauergemeinde passte nicht in die kleine Kapelle, fast die Hälfte der Gäste wartete draußen. Mit jedem Lied brach ich in Tränen aus, mit dem kleinen Vertipper im Programm der Trauerfeier in Lachen. Der Buchstabendreher wäre ihren geschulten Augen nie entgangen!
Es kommt der Tag, an dem du wirst.
Es kommt der Tag, an dem du wirst gebettet.
aus: Unverletzt, Cosima Stawenow, 2023.
Was jetzt ist
Es ist schwer auszuhalten. Manchmal ist die Einsamkeit so präsent. Dann nehme ich kaum mehr wahr, von wie viel Liebe ich umgeben bin. Wie viel Liebe ich anziehe. Dann fühlt sich das Verlassen-Werden wie ein Kontinuum an. Und dann bin ich neidisch auf all die Menschen, die sich nicht ständig verabschieden müssen. Bei denen die Angehörigen in Reihenfolge sterben, uralt, im Schlaf, nach einem sehr erfüllten Leben, im Kreise der Lieben. Bei denen die Kinder zwar groß werden, aber in räumlicher Nähe bleiben. Und bei denen die Partner niemals auf die Idee kämen, sie wären ohne sie im Leben besser dran. Oder falls doch, dieser Irrweg schon nach kurzer Zeit deutlich wird, das „Zurück“ unmittelbar in die Wege leitend. Die große romantische Geste bemühend. Mit Mariachi-Band oder so.
Was sein wird
Das wird natürlich alles nicht passieren, und nicht alles davon ist überhaupt wirklich wünschenswert. Ich werde mich von den Abschieden dieses Jahres erholen, so wie ich mich von allen bisherigen Abschieden erholt habe. Ich werde das Gute sehen, das Schöne bewahren, und aus dem melancholischen Zurückblicken, aus der Traurigkeit und der Schwere wieder in die Zukunft schauen können. Nicht heute. Nicht morgen.
Aber irgendwann.
Mit mir alleine.
Hinter mir: Ein volles Jahr.
Vor mir: Neues Land
Januar 2014
Alu
Danke, Alu
junebug
Ich danke Dir! Du nimmst mich so oft mit Dir mit, und das war und ist eine große Bereicherung, gerade bei den schwierigen Themen.
Die andere Juna
Ich bleibe und bin da.
junebug
Das ist gut zu lesen und zu wissen! Überhaupt, dass Du (und viele andere!) hier mitlesen, nachdem ich es momentan exakt einmal im Jahr schaffe, etwas zu schreiben … Danke! <3 Und ich hoffe, es geht Dir gut!
Antje
(((<3)))
junebug
Danke! <3
Anita
((( <3 )))
Es wird.
Es braucht Zeit.
junebug
Danke Dir! Auf jeden Fall.
Hoffentlich geht es Dir gut! Ich sende Dir viele herzliche Grüße!
Miss Booleana
Ich war sehr berührt von deinem Text und wünsche dir alles Gute.
Über die stabilen Beziehungen der anderen denke ich manchmal ähnliches, aber vielleicht reden sie auch einfach nicht drüber.