“Kennst Du schon den Plan” II


Vergangenes Jahr schrieb ich über Lebenspläne, Planlosigkeit und über einen verrauchten Keller. Möglicherweise, so dachte ich, freut Ihr Euch nach so vielen Monaten über ein Update.

Dieses Update liefere ich heute nicht. Ich schreibe stattdessen über meine Tochter. Und über das gelegentliche Fiktionalisieren hier im Blog, aber das kriegt nur eine Fußnote.

Meine Tochter also. Sie schreibt gerade Abitur. Vor etwas über einem Monat ist sie 18 geworden. Sie fährt Auto, betreibt Leistungssport, und sie hat seit kurzem einen Freund, den aber niemand so nennen darf. Denn sie haben das Ganze noch nicht definiert. Sie ist so selbstbestimmt, wie man mit 18 nur sein kann, so zielgerichtet in ihrem Abitur, wie es Eltern sich nur wünschen können, und so vollkommen bei sich und ihren täglichen, stressigen Aufgaben, wie es vermutlich und zum Leidwesen aller anderen im Haushalt sein muss. Denn mit dem Verweis auf ihr tägliches Lernpensum macht sie recht selten einen anderen Finger krumm. Typische Diskussionen zwischen uns laufen wie folgt:

„Machst Du nachher bitte noch die Wäsche fertig?“

„Ich schreibe morgen GESCHICHTE!“

„Ja, und ich habe ZWEI Jobs!!“

(genervter Abgang meiner Tochter, Augenrollen ich)

Vor kurzem sprachen der Vater der Kinder, aka „Noch-Ehegatte“, und ich über die Zeit nach dem Abitur. Der Anlass war ein Kindergeldantrag für unsere Tochter. Ab dem 18. Geburtstag sind wir als Eltern nämlich nicht kindergeldberechtigt, wenn das Kind nicht in einem Ausbildungsverhältnis steht ODER – zum Beispiel nach dem Schulabschluss – Bemühungen um ein Ausbildungsverhältnis nachweisen kann.

Auf das Schreiben der Arbeitsagentur reagierte der Noch-Ehegatte wie folgt: „Da müssen wir für Klarheit sorgen! Nix tun ist halt nicht! Da muss ein Plan her!“ Diesen Plan sollte unsere Tochter machen. Schon bald. Möglichst gestern, aber nach dem schriftlichen Abitur wäre auch ok.

Und in mir wehrte sich alles.

Denn da ist der verrauchte Keller meiner Erinnerung.[1] Und sei es, weil ich emotional und sentimental und auch eine Spur zu pathetisch bin: Ich will für keines meiner Kinder, dass sie, getrieben von den Umständen, den Finanzen oder den eigenen Eltern eine für sie nicht passende Entscheidung treffen. Ich will, dass meine Tochter zumindest als Option die gleiche Freiheit hat wie ich. Als ich mich nicht in Chemnitz für Kunstgeschichte einschrieb. Als ich stattdessen sehr viel Zeit in Kellern lieber Menschen verbrachte, als ich mit Tequila bewaffnet in die Sauna ging, als ich bis mittags um eins schlief, um dann den halben Kühlschrank leer zu essen, mir den Autoschlüssel für das Auto meiner Mutter zu schnappen und zu meinem Freund zu fahren. Als ich der Familie meines Freundes mehr Aufmerksamkeit schenkte als meiner eigenen, und mir meine Mutter deswegen enttäuschte Briefe schrieb. Als wir illegal feierten, legal feierten, die Küche unfälligerweise mit Schnapsresten aus einem Eimer wischten. Als ich nachts um drei auf dem Bettvorleger meiner Freundin einschlief, die am nächsten Morgen für ihre Frühschicht ins Café musste. Als ich bei einer Party jedem Menschen, den ich traf, eine andere Geschichte meiner aktuellen Tätigkeit auftischte: „Ich mache eine Ausbildung zur Sanitäterin!“ „Ich bin Snowboard-Trainer“, „Ich handle mit Aktien!“ Als ich ein Lotterleben führte, für sechs Monate straight. Als ich allen schrecklich auf die Nerven ging, mir inklusive.

Was das alles schön?

Um ehrlich zu sein, nein. In großen Teilen war es nicht schön. Aber es war frei, es war selbstbestimmt, es war plan- und zwecklos. Es ließ dem Neuen Zeit zum Werden, ließ mir genügend Zeit, um nachzukommen. Ließ mich nüchtern werden nach all dem Abiturkram, ließ mich runterkommen nach all dem Drama in meinem Leben. Sorgte für eine saubere Zäsur, einen klaren, von allem Alten losgelösten nächsten Schritt. Und veränderte mein ganzes Leben.

Also saß ich dem Noch-Ehegatten gegenüber, hörte mir seine richtigen und rational nachvollziehbaren Ausführungen an, und dachte: Das ist nicht mein Wille. Diese Entscheidung kann ich nicht erzwingen.

Ich will mich mit meiner Tochter streiten, wenn sie jeden Tag bis eins schläft, und ich will wütend sein, dass sie „ihr Leben vergeudet“. Ich will genervt sein und ihr Stellenanzeigen hinlegen und ihr das Taschengeld streichen, wenn sie nichts im Haushalt macht. Ich will sehen, wie sie sich abstößt und sich ein Bild herauskristallisiert, wohin es gehen soll. Weil ich das alles als Teil des Prozesses sehe. Also sagte ich unter Tränen:

„Lass uns diesen Kampf mit unserer Tochter führen. Lass mich wütend sein und angekotzt und glücklich, lass es mich furchtbar finden und genießen, lass mich jeden Abend da sitzen und sagen „So geht es nicht weiter“, obwohl ich genau weiß, dass es ja ohnehin nicht lange so weitergeht. Lass mich diese temporäre Planlosigkeit ertragen, die Ablösung fühlen, lass mich Teil dieses Prozesses sein, reiß das Pflaster nicht mit einem Ruck ab, lass die Haut darunter wenigstens ein Stück weit heilen, tue es für sie und mich und Dich. Denn hätte ich diese Zeit nicht gehabt, wäre ich meiner Mutter nicht heillos auf den Geist gegangen: Es gäbe unsere Tochter gar nicht. Ich hätte Dich nicht kennengelernt. Alles, alles wäre heute anders.

Und auch wenn nicht alles so super in meinem Leben gelaufen ist: Ich möchte es nicht anders haben.

Lass uns, lass ihr diese Zeit. Auf dass sie eines Abends orientierungslos in einem Keller sitzt und ihr einer ihrer Lieblingsmenschen sagt: ‘Kennst Du schon den Plan?’, während ein anderer Rauchringe aus einer E-Zigarette in die Luft bläst …“.

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[1] Ein Nebensatz meiner Freundin rief mir in Erinnerung, dass ich mitunter in diesem Blog fiktionalisiere. Nun ist Erinnerung, wie der Leiter des Instituts, an dem ich arbeite, formuliert „ein hochdynamischer Prozess, verbunden mit verschiedenen Ereignissen retrograder Amnesie“. Damit gibt es nach so vielen Jahren kein Richtig  oder Falsch mehr. Gleichzeitig erinnere ich mich schon sehr genau, dass es nicht einer, sondern mehrere Abende waren. Und dass an dem ersten dieser Abende meine zukünftige Mitbewohnerin beteiligt war und von ihrem Studium erzählte. Ich habe also meinen letzten Blogpost hochgeschummelt. Aber ändert das etwas an dem Punkt, den ich machen wollte?


2 Antworten zu ““Kennst Du schon den Plan” II”

  1. Ach Liebes,
    willkommen im Club der Eltern von besonderen Töchtern. Kann Deine Schilderungen voll und ganz nachvollziehen, BTDT. Mittlerweile hat meine “Kleine” das erste Auto in einen Totalschaden verwandelt, ihren Freund von dem sie sich nie trennen wollte durch einen anderen ersetzt und lebt nur noch auf dem Papier hier. Ansonsten lernt sie gerade “Haushalt machen” auf die harte Tour, neben dem neu angefangenen Studium an einer Fern-Uni, da der normale Universitätsbetrieb nicht für sie geschaffen ist. Wohl auch weil die feste Prüfungstermine haben.

    Und doch, als Vater kann ich nicht anders als meine Tochter abgöttsich zu lieben, selbst wenn sie zwar einen Vertrag unterschreiben hat als Gegenleistung zur Finanzierung des eignenen fahrbaren Untersatzes ihr Zimmre aufzuräumen und das seit mehr als einem halben Jahr prokrastiniert. Und doch sehe ich einen “Reifeprozess” und unterdrücke meinen Ärger über den Saustall im Zimmer, das jetzt eh nicht mehr von ihr bewohnt ist.

    Und ich lerne, dass es im Herzen fürchterlich weh tut, wenn man das eigene Kind nur noch gelegentlich sieht, wenn sie gerad ein der Gegend ist. Auf so was bereitet einen ja auch niemand so richtig vor. Genieße die Zeit, in der sie Dir noch auf die Nerven geht, danach tut es erst mal im Herzen verdammt weh. Und ja, akzeptiere dass sie sich selbst finden muss. “There are 2 important dates in your life, the day when you are born and the day when you find out why” (keine Ahnung wer das gesagt hat). Sie muss sich wohl darüber im Klaren werden wohin ihre Reise im Leben hingehen soll, und da hilft wohl kein Druck oder Streß, sondern eher Geduld und Verständnis (was natürlich nicht gerade einfach ist).

    „Ich schreibe morgen GESCHICHTE!“ hat mich zum Schmunzeln gebracht, denn mein beklopptes Unterbewusstsein hat sofort assoziiert “Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben”. Ich drücke Deiner Tochter alle Daumen, dass sie am Ende zu den Siegern und nicht zu den Verlierern gehört. Und natürlich freue ich mich riesig, nach langer Zeit mal wieder was von Dir zu lesen, auch wenn ich eine höhere Postingfrequenz lieber hätte.

    Ganz liebe Grüße und viel Kraft zu Euch allen. Und nie vergessen, am Ende wird alles gut.

  2. Was Rainer sagt

    ” Genieße die Zeit, in der sie Dir noch auf die Nerven geht, danach tut es erst mal im Herzen verdammt weh.”

    ich unterschreib das zu 100%.

    Und einiges andere kenne ich auch.

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