Auf twitter gibt es gerade einen hashtag, der dazu aufruft, 2018 in fünf Worten zu beschreiben. Wenn ich gelernt hätte, mich kurz zu fassen, bräuchte ich nur vier Worte. Sie würden lauten:
What the actual fuck?! #2018
2018 brachte mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit und weit darüber hinaus. Emotionale Erschöpfung, tiefe Augenringe und einiges an Falten sowie grauen Haaren mehr zeugen vom Kampf, den mir mein Leben dieses Jahr aufgezwungen hat. Dabei sollte es insgesamt ruhiger werden – ich wollte insgesamt ruhiger werden. Die Achterbahnfahrten der letzten Jahre hätten von mir aus sehr gerne einem kleinen Kettenkarussell weichen dürfen. Einem, das seine juchzenden Besucher*innen nicht ganz so hoch über dem Boden schweben lässt.
Seit einigen Monaten und sehr vielen Tränen bin ich nun getrennt erziehend, wie es so schön heißt. Die neue Rolle zwickt noch hier und da, aber im Großen und Ganzen ruckeln die Kinder und ich uns in die Situation ein. Dass ich so einen Satz Ende 2018 schreiben muss, hätte ich zu Beginn des Jahres noch nicht gedacht. Dass ich mich gleich von mehreren Menschen, denen ich bedingungslos vertraut habe, verabschieden muss, ebenfalls nicht. Beides ist eingetreten, und neben Trauer, Schmerz, Wut und Ohnmacht fühle ich noch einiges mehr. Überraschenderweise fühle ich zum Beispiel Erleichterung. Denn etwas in meinem Leben hat sehr lange Zeit nicht gestimmt. Hat Energien gebunden, mich ratlos, verzweifelt, ängstlich und sogar krank gemacht. Als alles aufbrach und sich das Puzzle der letzten Jahre zusammensetzte, waren Verzweiflung und Angst, die mich so lange begleitet haben, weg. Ich fühle neuen Raum, Offenheit, große Unsicherheit, klar, aber auch einen sehr eigentümlichen Frieden mit mir. Ich bin dabei, loszulassen, auch wenn es das wohl Schwerste ist, das ich je tun musste. Es ist ein Abschied von einer der wichtigsten Säulen in meinem Leben: Von meinem Bild einer intakten Familie. Alles ist anders gekommen, aber ich habe aufgehört, mich permanent dagegen zu wehren.
Wie immer um diese Zeit nehme ich mir meine Liste vor, auf der ich zu Beginn des Jahres festgehalten habe, was ich 2018 erreichen und welcher Mensch ich in diesem Jahr sein wollte. Für mich völlig überraschend stelle ich fest: Trotz der Lebenskrise, die über mich hereinbrach, ist vieles eingetreten. Beruflich konnte ich zahlreiche Initiativen und Social Startups erfolgreich begleiten und habe mit Dirk zusammen im April noch einmal gegründet. Unsere Agentur ist nicht nur das größte und interessanteste Projekt meines bisherigen beruflichen Lebens, sondern auch ein Kraftort für uns alle, wie wir gerade in einem großartigen Teamcoaching mit Julia Meder festgestellt haben. (Danke dafür!) Ich habe mir den Luxus geleistet, Projekte abzulehnen oder zu beenden, die mir nicht gut taten, und bin damit zwar leider nicht reich, aber zumindest sehr zufrieden geworden. Es gab Konferenzen, Vorträge, Diskussionspanels, eine Vereinsrettung und die Neugründung eines Quartiers der Digital Media Women. Es gab Raum für idiotische Ideen und größenwahnsinnige Pläne, Zeit alleine und mit den Kindern, einen sehr spontanen Roadtrip mit meiner immer größer werdenden ältesten Tochter, Besuche von lieben Freunden und eine neue Couch. Ich habe mir Zeit genommen für Arzttermine, habe mich bewusst in Situationen begeben, die mir fürchterliche Angst einjagen, bin zwischendurch achtsam mit mir umgegangen und habe begonnen, Klavier zu spielen. Endlich. 2018 hat neue Menschen in mein Leben gebracht, die schon nach kurzer Zeit für mich sehr wichtig geworden sind. All das und noch mehr steht auf der langen HABEN-Seite. Für all das bin ich unendlich dankbar.
Im SOLL bin ich wie jedes Jahr bei meinem ständig scheiternden Versuch, eine gute Work-Life-Balance zu etablieren. Manchmal frage ich mich, ob die Menschen um mich herum einen Zeitumkehrer besitzen. Oder dramatisch wenig Schlaf brauchen. Meine Tage sind immer zu kurz, und gerade so wichtige Dinge wie Bewegung an der frischen Luft, Zeit für Nichtstun und Langeweile (was ist das?), Zeit, mir etwas Anständiges zu kochen oder endlich wieder zu schreiben ist in den letzten Monaten eine Mission Impossible. Zu oft funktioniere ich nur, reiße mein Pensum ab und hoffe, dass nach der willkürlichen Zäsur unserer Jahresgrenzen alles besser, leichter, langsamer wird. Das Lesen, das Laufen und das eigene Schreiben vermisse ich dieses Jahr am meisten. Das kommt also auf die Liste für 2019.
Insgesamt viel weniger gelesen habe ich auch im Netz. Dennoch sind genügend klasse Texte zusammengekommen, um nach meiner langen Vorrede in alter Blogtradition das Jahr in Euren Worten wiederzugeben. Wie immer danke ich Euch für kritische Denkanstöße, kleinere und größere Wutausbrüche, Rückhalt und Rückgrat. Für die leisen Zeilen und die lauten. Es ist schön, Euch da draußen zu wissen.
Also: 2018 – in Euren Worten
Im Januar lese ich einen Text von Mirko Wenig, der mich sehr beeindruckt. Er schreibt einen offenen Brief an Jan Fleischhauer und rechnet mit Vorurteilen ab.
“Herr Fleischhauer, ich habe da einen bösen Verdacht. Sie wissen nicht viel über dieses Milieu, über das Sie sich so abschätzig äußern. Ihre Feder wird geführt von Vorurteilen. Für einen Journalisten ist das eine Bankrotterklärung. Und um mich an dieser Stelle klar zu positionieren: Ich bin der Working-Class-Proll, über den Sie da schreiben.”
Ebenfalls im Januar schreibt Sassi über das Leben mit Kindern. Und über eine ganz wunderbare Weicheimutter, nämlich sich selbst:
“Gestern war ich einkaufen. Ich habe zwei Kinder. Und bin selbst ein Mensch mit Bedürfnissen. Eines davon ist zum Beispiel die regelmäßige Nahrungsaufnahme. Und darum muss ich gelegentlich ein Geschäft betreten. Und meistens tu ich das im Beisein der zwei zuvor erwähnten Kinder. Oft genug verläuft der Lebensmittelbeschaffungsprozess recht unspektakulär.”
Im Februar lese ich einen älteren Blogpost von Lydia und finde ihn umwerfend gut. Sie fragt sich darin, warum es eigentlich schon wieder die Frauen sind, die sich ändern und anpassen sollen. Nach Working while female erneut ein sehr lesenswerter Text von ihr:
„Ich kann mir nichts Falscheres vorstellen, als Frauen aufzufordern, sich daran anzupassen und sich selbst zu verleugnen. Vor allem: Wozu? Damit sagen wir ja, dass das System richtig ist, so wie es ist. Ist es aber nicht.“
Ein ganz fester Bestandteil meiner leider etwas schwächelnden Blogosphäre (Leute, bloggt wieder mehr, bitte!) ist Robin. Im Februar zweitveröffentlicht sie einen Artikel zu Depressionen und Suizid:
„Hier finden Sie Hilfe.“ Leider kann ich nicht sagen, wie viele Selbstmorde durch dieses mustergültige Beispiel journalistischen Verantwortungsbewusstseins verhindert worden sind. Ich weiß nur, dass in den neun Tagen zwischen Benningtons Tod und dem Schreiben dieser Zeilen 246 Menschen in Deutschland Selbstmord begangen haben.”
Jasmin ist eine beeindruckende Frau, die ebenso beeindruckend schreiben kann. Ihr Text Sterben üben ist unaufgeregt, leise und sehr kraftvoll:
“Gerda stirbt, deshalb bin ich hier. Ihre Familie hat mich kontaktiert. Sie hatten Gerda einen Artikel von mir vorgelesen und die alte Frau bat sie, mir zu schreiben und mich einzuladen. “Schauen Sie mir bitte beim Sterben zu”, sagte sie mir direkt am Anfang, “da können Sie was lernen.”
Im März schreibt Nina einen Brief an die Bundesregierung. Über das Ehegattensplitting. Dabei meldet sich selbst, die „moderne Frau“, als vermisst:
“Als das Ehegattensplitting 1958 eingeführt wurde, nickte die damals moderne Frau mit dem selbstgewählten Ehemann und dem geduldetem Hauswirtschaftsschul-Diplom zustimmend.“
Dann lese ich im Mai zum Muttertag diesen Blogpost der geschätzten Odenwälderin und lache so laut, dass mich alle im Café ganz irritiert ansehen. So viel sei verraten: Es geht um Hühner, genauer: Ein bestimmtes Huhn:
“Nun gibt es ja aber Situationen im Leben eines Huhnes, in der sich eben jenes Huhn partout überhaupt nicht anfassen lassen will. Wir haben da so eine Vertreterin im Stall, ich habe ihr schon in weiser Voraussicht nie einen Namen gegeben, so, als hätte ich damals schon gewusst, dass sie einfach ein dämliches Vieh wird. Selbst im normalen Hühneralltag weicht sie jeder Berührung, jeder Nähe aus, sie hackt und triezt alle anderen Hühner und verteidigt jedes Futterkorn, als könnte es das letzte sein.”
Eine Bloggerin, die mich bisher noch kein einziges Jahr im Stich ließ, ist Vanessa. Sie schreibt beständig, und es sind immer wieder Knallertexte dabei. Als ich den Text lese, bin ich seit wenigen Tagen getrennt und amüsiere mich merkwürdigerweise dennoch hervorragend. Horror schafft man nur mit Humor.
“Die 262.000 Minuten, in denen ich mich nicht verliebte und in denen sich, zumindest meiner Kenntnis nach, auch niemand in mich verliebte, haben mich 346 Euro Mitgliedsgebühr gekostet. Von diesen 346 Euro hätte ich mir, wenn wir von einem Preis von sechs Euro pro Glas ausgehen, 58 Gin Fizz kaufen können. Je nach Zustand des Zielobjekts benötige ich drei bis fünf Gin Fizz, um mir einen Mann schön zu trinken. Ich hätte mir also für die 346 Euro, die ich für Parship ausgegeben habe, 19 mittelschöne und zwölf unterdurchnittlich schöne Männer sehr schön trinken können. Selbst im ungünstigsten Fall wäre ich also mindestens ein dutzend Mal verliebt gewesen. Das ist zwölfmal mehr, als ich in 262.000 Parship-Minuten geschafft habe.“
Im August lese ich die Kolumne von Barbara Kaufmann. Sie zeigt, dass es manchmal nur sehr wenige Worte braucht, um eine gesellschaftliche Situation hervorragend zu beschreiben. Aus Zeit für einen Aufstand:
“Es ist natürlich nicht viel, sagt der Agenturchef. Aber das, was du leistest, ist ohnehin unbezahlbar. Es ist nichts Persönliches, sagt der Projektleiter. Aber Führungspositionen sind eine härtere Sportart und dafür bist du nicht trainiert. Es ist eine Frage des Willens, sagt der Vorstand. Wenn Frauen wollen, können sie alles schaffen.“
Ebenfalls im August greift das Fräulein ReadOn wie so oft ein aktuelles politisches Thema auf und beschreibt es ganz persönlich. Worüber wir lachen:
“Das war ich. Auch ich habe viele Jahre am lautesten gelacht über mich. Das ist vielleicht das Ekligste an den Demütigungen, dass man gezwungen ist noch lauter zu lachen als alle Anderen.“
Absolut keine Ahnung habe ich, wann ich diesen Text von Katja zum ersten Mal gelesen habe. Macht nichts, denn das wütende Männer sind so, Frauen sind so – ich kann es nicht mehr hören! ist und bleibt aktuell und lesenswert:
“Männer sind nicht so. Frauen auch nicht. Wie viele meiner Freundinnen finden sich nicht repräsentiert von all den Klischees, ohne komplett dagegen zu verstoßen. Bei den Männern läuft es genauso. Es gruselt mich jedes Mal, wenn ich höre, dass Männer halt nicht so viel Einfühlungsvermögen haben und nicht so gut über ihre Gefühle reden können. Ja holla die Waldfee: Date doch mal bitte einen Sozialpädagogen oder Psychotherapeuten, der die ganze Zeit mit Supervisionen und Selbstreflexion beschäftigt ist. Oder jemanden, der ein bisschen Therapieerfahrung hat. Da schlackern dir die Ohren vor lauter Einfühlungsvermögen.”
Im November bloggt Jannis auf linkedin (Wieso tut man denn sowas?) darüber, warum er TEDx-Konferenzen organisiert. Ich mag den Text, und ich mag Jannis. Er und sein Team stellen da seit drei Jahren etwas ganz Großartiges auf die Beine.
“Trembling from project to project I felt lost, often insufficient, insecure and wondered why on earth everyone else seemed to succeed more in this game we call life. Of course I didn’t overcome all these fears and insecurities, but I guess organising TEDx events brought and continues to bring me several realisations I always will be grateful for.“
Sarah veröffentlicht im Dezember, warum es keinen Jahrgang 2021 gibt. In der nicht enden wollenden Debatte um Abtreibung und um Frauenrechte ein sehr wichtiger und persönlicher Beitrag.
“Dann halte ich mir eben die Ohren zu, während Valentin nicht aufhört, mich zu fragen, ob ich mir das nicht auch gut vorstellen könne. Dabei lehnt er sich ganz dicht an mein Ohr, sein halber Körper liegt nun an meinen gelehnt. Meine letzte Kraft muss ich aufwenden, damit er nicht vom Barhocker fällt oder ich.“
Thematisch völlig anders ist der aktuelle Blogpost von Marco. Ich habe ihm das schon persönlich gesagt und schreibe es jetzt in diesen Jahresrückblick: Marco ist der einzige (ebenfalls sehr beständige) Blogger, den ich kenne, der ganz Banales aus dem Alltag so beschreiben kann, dass ich es entzückt lese. In diesem Beitrag geht es um Schnürsenkel.
“Der Inhalt einer Handtasche ist bekanntlich eine recht persönliche Angelegenheit und es ist natürlich wahnsinnig interessant zu erfahren, was andere Menschen so mit sich herumtragen. Als ich dann ganz unspektakulär erwähnte, dass ich auch immer einen Schnürsenkel in der Handtasche habe, lagen meine Geschwister lachend unter dem Tisch, und ich konnte mich im Anschluss nicht mehr normal mit ihnen unterhalten.“
Eine sehr kurze, aber wichtige Erinnerung kommt passend zum Jahreswechsel von Mervy. „Du bist kein Versager“:
“Besonders erfolgreiche Menschen neigen dazu, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die sie (noch) nicht geschafft haben. Sie schätzen sich selber schwächer ein, als sie nach außen wirken und als sie tatsächlich sind.“
Wie immer schließt diese subjektive Auswahl Menschen und Bloggende aus, die mich durch dieses Jahr begleitet haben. Daher nenne ich noch schnell, aber sehr zärtlich ein paar Namen, ohne die ich in den Stürmen der letzten Monate noch viel, viel mehr Federn gelassen hätte. Danke für Eure Worte, Eure Begleitung, Euer Da-Sein und So-Sein, Sarah und Julia, Lia, Dirk, Steffi, Gisela, Su und Rainer, Johannah, Valentin und André, Renate, Erik, Michi und Moni, Juli und Christian. Danke an alle eigenstimmig-Ladies, und danke an meine beständige Twitteria. Ihr seid die Besten.
Wir lesen uns in 2019! Kommt gut ins neue Jahr.
Beitragsbild via pexels.com. Danke!
Widersynnig
Leider Funktioniert der Link von Mirko Wenig nicht 🙁
Frohe Weihnachten!
junebug
Sorry, da hat sich was eingeschlichen. Sollte nun gehen!
Danke und ebenso!
Widersynnog
Hat geklappt und sehr lesenswert. Danke .