Eigentlich möchte ich mich bei einer Veranstaltung als Vortragende bewerben. Dafür muss ich ein Abstract schreiben. Teuflischerweise gilt die alte Prokrastinations-Weisheit „Je wichtiger, desto aufschieb“. Zeit also für eine neue Runde Prokrastinieren mit Popsongs. Dieses Mal unfreiwillig zu Gast: Emeli Sandé und ihr Read all about it, das ich sehr liebe.
You’ve got the words to change a nation
But you’re biting your tongue
Schon das erste Wort der ersten Strophe offenbart, dass mit dem Lied von Emeli Sandé eine Person direkt angesprochen wird. Das lyrische Ich, das sich im Folgenden zu einer nicht näher definierten Gruppe, der Kürze halber lediglich mit „wir“ bezeichnet, rechnet, charakterisiert die angesprochene Person mit den folgenden Zeilen:
“Deine Worte könnten die Gesellschaft verändern, und dennoch beißt Du Dir auf die Zunge”.
Die sprechende Person, in der Gedichtanalyse als das „lyrische Ich“ bezeichnet, referiert auf die Macht der Stimme bzw. der Worte. „Deine Worte könnten die Gesellschaft verändern“ ist mehrdeutig: Es ist möglich, dass die angesprochene Person in den Augen des Sprechenden über bestimmte Eigenschaften und Qualitäten verfügt, die er_sie nur in privater Kommunikation zeigen kann. In anderen Kontexten dagegen hält der_diejenige sich zurück, mit der Redewendung „Du beißt Dir auf die Zunge“ umschrieben. Wahrscheinlicher allerdings, beachten wir die letzte Zeile der ersten Strophe, ist aber eine ganz allgemeine Referenz auf die Macht der Kommunikation. In dieser zweiten Lesart ist an der angesprochenen Person nichts, was sie_ihn über die Masse heraushebt – einmal abgesehen von extremer Schüchternheit. Die angesprochene Person versucht nicht einmal, in die Kommunikation einzustimmen oder einzugreifen. Die Konsequenz ist, dass die potentiell verändernde Macht der eigenen Stimme nicht erlebt wird. Dafür spricht auch der nächste Satz:
You’ve spent a life time stuck in silence
Afraid you’ll say something wrong
“Ein Leben lang hast Du geschwiegen, weil Du Angst hattest, etwas Falsches zu sagen.”
Der Nebensatz enthält bereits die küchenpsychologisch einwandfreie Erklärung für das lebenslange Schweigen des Angesprochenen: Die Person fürchtet sich davor, etwas Falsches zu sagen. Analysieren wir diese (vom lyrischen Ich postulierte) Angst weiter, ergibt sich daraus die Ur-Angst, sich nicht zugehörig zu fühlen, keine Verbindung zu anderen aufbauen zu können bzw. diese durch Äußerungen, durch kommunikatives „Anecken” zu verlieren.
Das lyrische Ich lässt diese Angst nicht gelten, vielmehr fragt es, deutlich rhetorisch:
If no one ever hears it how we gonna learn your song?
“Aber wenn niemand es hören kann, wie sollen wir dann Dein Lied lernen?” Die „Macht der Worte“-Metapher wird in dieser Zeile von der Metapher des „Liedes in uns“ abgelöst. Die dahinter stehende Annahme ist, dass sich das, was wir Menschen (an Meinung, an Geschichte) zu sagen und zu erzählen haben, in Kombination mit unserer Stimme zu einem „Lied“ ergibt. Vermutlich steht hier weniger die Vorstellung einer abgeschlossenen Story des eigenen Liedes im Vordergrund, sondern mehr das Alleinstellungsmerkmal, das Unverwechselbare einer jeden Persönlichkeit, das durch Erlebnisse geformt und mit der eigenen Stimme übertragen wird. Ich bin ein großer Fan dieser Metapher.
Ob die Gruppe, der sich das lyrische Ich zurechnet, das in der Fantasie vorgetragene Lied tatsächlich „lernen“ möchte, oder ob mit „lernen“ hier eher bewusstes Hören und, in einem zweiten Schritt, Wahrnehmen der Persönlichkeit gemeint ist, bleibt offen. Ein Lernen, quasi ein Nachsingen, widerspräche im Grunde dem Gedanken der Einzigartigkeit. (Nimm das, Du dämliches Vox-Format “Sing meinen Song!”)
Der rhetorischen Frage folgt eine explizite Aufforderung. Ein klassischer Textaufbau, der sowohl in Motivationsreden (Typ „Worauf wartest Du? Geh und hol Dir den Job/das Mädchen/ die Welt!“) als auch in Marketingkampagnen („Warum nicht mal was Neues? Gönn Dir die neue Coke Cherry!“) immer noch funktioniert. Trotz des erhöhten Grades an Total-ausgelutscht-Sein. Schön dabei: Die direkte Wiederholung, die musikalisch beide Male mit einem Ton höher abgeschlossen wird:
So come on, come on
Come on, come on
Also komm jetzt, komm, mach!
Die zweite Strophe beginnt textlich analog zur ersten: Mit einer direkten Ansprache. Das erste Wort ist „Du“.
You’ve got a heart as loud as lions
So why let your voice be tamed?
Der erste Satz bleibt elliptisch, gemeint ist hier vermutlich: „Dein Herz ist so laut wie das Brüllen eines Löwen.“ Dieser Vergleich überrascht ein wenig. Zwar wird das sprachliche Spiel mit Laut-Leise bzw. Laut-Stumm-Vergleichen weitergeführt – das lyrische Ich bedient sich also im Grunde einer Variation des gleichen Bildes – aber was genau soll das Herz eines Menschen so laut erscheinen lassen wie ein Löwenbrüllen?
Die darauf folgende Frage: „Warum solltest Du zulassen, dass Deine Stimme gezähmt wird?“ gibt etwas mehr Aufschluss über die Analogie. Der Löwe in der ersten Zeile soll frei assoziiert werden, er steht also für Kraft, Größe, Mut und Einfluss. Das Bild des Löwen ist somit eine direkte Fortsetzung der Behauptung in der ersten Liedzeile, die Äußerungen der angesprochenen Person könnten die Gesellschaft verändern. Die passive Formulierung der zweiten Zeile trifft den vorher geschilderten Sachverhalt nicht. Die angesprochene Person zähmt ja den Löwen, das Brüllen, selbst, indem sie immer schweigt.
In der nächsten Zeile wird ein neues „Wir“ kreiert, das sich vom erstgenannten „we“ unterscheidet. Hier schließt das lyrische Ich die angesprochene Person ins „Wir“ ein: „Vielleicht sind wir ein wenig anders“.
Maybe we’re a little different
There’s no need to be ashamed
Das nicht näher bestimmte „Ein wenig anders“-Sein wird implizit bewertet, was aber erst die Aufhebung dieser Bewertung in der folgenden Zeile deutlich macht: „Das ist kein Grund, sich zu schämen“. Warum es überhaupt ein Anlass zur Scham wäre, ein “wenig anders” zu sein, wird nicht näher erklärt. Hier schwingt, wieder im Modus des freien Assoziierens, die Angst des Angesprochenen mit, nicht dazu zu gehören bzw. die Verbindung zu anderen zu verlieren, wenn er_sie sich offen zeigt, sich äußert, beginnt, sein_ihr eigenes Lied zu singen. Die nächsten Zeilen ändern das Bild und bedienen sich einer neuen Metapher. Yippieh!
You’ve got the light to fight the shadows
So stop hiding it away
„Du hast genügend Licht, um all die Schatten zu bekämpfen“. Aus der Laut-Leise-Dichotomie wird das bekannte „Hell-Dunkel“, und zwar in einem literaturwissenschaftlich gesehen klassischen Sinn: Das Licht ist das Gute, die Schatten das Böse. Während das “eigene Lied“ bzw. die eigenen Worte einen Abgrenzungscharakter aufwiesen („ein wenig anders“, „Angst, etwas Falsches zu sagen“), war die postulierte “Macht der Veränderung” in der allerersten Liedzeile zunächst einmal neutral. Hier wird diese mögliche Veränderung nun eindeutig positiv konnotiert – die angesprochene Person hat nicht nur die Macht, eine Veränderung herbeizuführen. Er_sie ist in der Lage, die Schatten (und damit das Böse) zu bekämpfen. Mehr Licht in die Welt zu bringen. „Mehr Licht“, das waren ja bekanntlich auch die letzten Worte des sterbenden Goethe, das kann also so falsch als Wunsch nicht sein. Zumindest, wenn man selbst die Licht-Schatten-Gut-Böse Dichotomie mitträgt. Ist man eher zen-mäßig unterwegs („Wo Licht ist, ist auch Schatten“), dann hält man sich lieber an Basismetapher 1.
In der zweiten Zeile folgt eine erneute explizite Aufforderung, im Ton etwas schärfer als vorher: „Hör auf, Dein Licht zu verstecken“, gefolgt von der Wiederholung: „Come on, come on“. Ein bisschen erinnert mich diese Passage an Katy Perrys „Firework“. Aber so ist es halt im Popsong-Bereich. Die beliebtesten Metaphern muss man sich teilen.
Wir befinden uns im Refrain:
I wanna sing, I wanna shout
I wanna scream ’til the words dry out
So put it in all of the papers,
I’m not afraid
They can read all about it
Read all about it
Hier drückt das lyrische Ich einen eigenen Wunsch aus, der sich mit der Forderung an die angesprochene Person verknüpft: Es selbst will „singen, rufen, schreien bis die Worte versiegen“ (im engl. Original „austrocknen“, gemeint ist vermutlich eher, dass der Hals rau und trocken wird. Schreien strengt ja bekanntlich an). Hier erfahren wir also, woran dem lyrischen Ich in erster Linie liegt, diesem hintertriebenen Stück. Die angesprochene Person soll sich nicht mehr verstecken, sie soll „laut“ werden, damit das lyrische Ich bei seinen Vorhaben nicht alleine ist. Ha, wer hätte das am Anfang des Songs vermutet?
Häme beiseite: Das lyrische Ich identifiziert sich offenbar aus Gründen der Ähnlichkeit mit der Situation des Angesprochenen. Die Macht der Worte, das Licht, das die Schatten bekämpfen kann, und das eigene Lied, das auch andere hören sollen: Alles Dinge, die nun vom Angesprochenen auf das lyrische Ich zurückfallen. Der Plan scheint, die Hürde des Schweigens gemeinsam zu meistern. Zusammen zu singen, zu rufen und die Schatten zu bekämpfen. Wie Batman und Robin, quasi.
Das Ende des Refrains fungiert als Verstärkung dieser Absichtserklärung: “Schreib es in jede Zeitung, ich habe keine Angst, jede_r kann/ darf/ soll darüber lesen“. Es bleibt unklar, warum es Zeitungen und Magazine interessieren sollte, dass das lyrische Ich gerne ein wenig lauter wäre. Vermutlich stehen die „papers“ lediglich für eine breitere Öffentlichkeit, vielleicht wie die sprichwörtlichen Plakatwände, auf die wir immer unsere Gefühle schreiben wollen, wenn wir verliebt sind. Zeitungen und Plakatwände stellen so das Gegenbild zum Schweigen, Verstecken und Nicht-Anecken-Wollen dar.
In der letzten Zeile wird das „They“ vom „we“ klar abgegrenzt. Lesen sollen es also vor allem „die anderen“, die, die sich in Verhalten oder Persönlichkeit von den beiden Protagonisten des Liedes unterscheiden. „it“ ist vermutlich eine Verkürzung für „uns“, „unsere Geschichte“, „das, was wir mit unserem Lied noch tun werden“. Es ist damit gleichsam ein Versprechen an die gemeinsame Zukunft, an die Ereignisse, die warten, nachdem das Schweigen gebrochen wurde. Das lyrische Ich drückt aus, dass es vor den Konsequenzen seines Handelns keine Angst (mehr) hat. Sollen sie doch alle lesen! Sollen sie ihre Verbindung zu uns abbrechen! Unser Lied ist es wert, und die Schatten werden wir gemeinsam bekämpfen!
Die anschließende Strophe wird konkret und zeichnet hübsche Bilder in die Nacht, aber ich springe aus Gründen der Langatmigkeit direkt in die Brücke:
Yeah, we’re all wonderful, wonderful people
So when did we all get so fearful?
Now we’re finally finding our voices
So take a chance, come help me sing this
„Wir sind alle wunderbare Menschen“, behauptet das lyrische Ich versöhnlich und hebt damit die erfolgte Abgrenzung zwischen „uns“ und „ihnen“ wieder auf. Damit werden alle Menschen, die sich mit der angesprochenen Person identifizieren können, explizit einbezogen und mit dem überaus positiven „wunderbar“ bezeichnet. Die anschließende Zeile ist, Ihr ahnt es, rhetorisch, und fragt nach dem Ursprung der Furcht. Gemeint ist kein zeitliches „when“ – „wann sind wir alle so ängstlich geworden?“ – sondern mehr ein „why?“ – „warum sind wir eigentlich ängstlich?“
Das ist eine generelle Frage, die wir uns viel häufiger stellen sollten, aber das führt jetzt zu weit weg.
Zum Schluss der Brücke wird eine unmittelbare Veränderung in Aussicht gestellt: „Gerade finden wir endlich unsere Stimmen“. Laut-Leise, Schweigen-Singen, Ihr kennt das bereits. Die Aufforderung „hilf mir, zu singen“ richtet sich sowohl an die angesprochene Person, als auch an uns, an die wunderbaren Menschen dort draußen, die aus unbekannten Gründen Angst haben. Angst davor, Risiken einzugehen, Verbindungen aufs Spiel zu setzen, Fehler zu machen, „das Falsche“ zu sagen. Im Grunde ist die Botschaft des Liedes also „Habt keine Angst, seid laut, singt Euer eigenes Lied!“ Dafür habt Ihr vermutlich keine Analyse gebraucht, aber hey. Allein für den Batman und Robin-Vergleich lohnt sich das Prokrastinieren mit Popsongs doch schon, oder?
Ungeachtet meiner Flapsigkeit ist das Lied von Emeli Sandé nicht nur musikalisch wunderschön. Ich finde auch den Text für einen Popsong insgesamt gelungen. Er transportiert Zuversicht in die eigene Stimme und Haltung.
So, come on, come on! 🙂
Ute Schwidden
nice. und ich bin immer wieder überrascht, wie sehr und oft Menschen / Künstler das aussprechen, was ich denke / was es in mir schreit. Und immer wieder denke ich: “krass, es geht nicht nur mir so!!” Schöne Analyse 🙂