Das Netz ist das, was Du draus machst

In eigener Sache, Internet und Gesellschaft, Kinder

Künstliche Räume der Sicherheit

Meine Tochter hat mir ein Kinderlied beigebracht: 

Fünf kleine Fische, die schwimmen im Meer blubbblubbblubbblubb

Da sagt der eine: Ich mag nicht mehr.

Ich wär viel lieber in einem kleinen Teich

Denn im Meer schwimmt der Hai und der frisst mich gleich!

Dem ersten Fisch machen es die anderen bald nach. Vier Fische später ist der Hai dran:

Ein großer Hai, der schwimmt im Meer blubbblubbblubbblubb

Da sagt er zu sich: Ich mag nicht mehr.

Ich wär viel lieber in einem kleinen Teich 

Denn da schwimmen viele Fische und die FRESS ICH GLEICH!

Meine Töchter amüsierten sich. Klar, sie sind ja auch keine Fische;) Mich hat der kleine Vers ziemlich beschäftigt. Ich musste dauernd an ein Gespräch zwischen mir und meinem Mann in der letzten Woche denken. In diesem ging es um die Nachbarn, die die App „Line“ auf ihren Smartphones benutzen, um ihre Treffen besser koordinieren zu können, und um die achtjährige Freundin der Großen, die zu ihrem Geburtstag jetzt ein eigenes Smartphone geschenkt bekommen hat. Ich fand das zunächst einmal einfach nur überflüssig. Beides. Und natürlich dachte ich so was wie: „Na toll, lasst es uns der NSA einfach NOCH leichter machen.“ Da sagte mein Mann: „Überleg doch, wenn die Kinder mal später als verabredet nach Hause kommen, dann kannst Du per App checken, wo ihr Smartphone gerade ist! Und wenn – Gott bewahre – doch mal was passiert, dann kann man sie orten!“ Meine Reaktion war ein lautstarkes. „Wie gruselig ist das denn bitte??“

Ich will jetzt nicht mit dem „Früher hatten wir“-Blödsinn anfangen. Früher war eben früher. Aber wenn ich vergleiche, was ich bis heute aus meiner Kindheit an Schätzen mitgenommen habe, dann sind das unter anderem:

  1. Der Tag, an dem ich mit einer Freundin auf die Großbaustelle neben dem Friedhof gegangen bin. Es hatte fast drei Wochen geregnet, und wir spielten stundenlang im Matsch, ließen uns die Berge herunter rollen, krochen in die Baggerschaufeln, kamen viel zu spät nach Hause und kassierten einen Riesen-Anschiss.
  2. Die Rutschpartie an den steilen Abhängen im Wald – weil Hochsommer war auf Plastiktüten. Dann haben wir uns in einem kleinen Tal Zelte aus Weidenstöcken gebaut und so getan, als müssten wir Rehe jagen. Wir kamen viel zu spät nach Hause und kriegten einen Riesen-Anschiss.
  3. Die Freibad-Besuche mit den Klassenkameraden, bewaffnet mit einem batteriebetriebenen Transistorradio. Auf dem Weg dorthin fuhren wir freihändig und brachten ansehnliche Schrammen nach Hause. Stets kamen wir zu spät und ich bekam einen Riesenanschiss.

Ganz zu schweigen von meiner Jugendzeit. Oh, die Jugendjahre!

Natürlich bin ich da ambivalent, wie jede Mutter. Auf der einen Seite möchte ich für meine Kinder die gleichen Freiräume, die gleichen unbeobachteten Erlebnisse. Auf der anderen Seite will ich meine Kinder beschützen und ihnen das ein- oder andere, das ich selbst gemacht habe, am liebsten verbieten. Das ist etwas schizophren. Aber allem voran ist es MEIN Problem, und nicht das meiner Kinder. In ihrem Artikel „Überwachung praktizieren wir selbst – jeden Tag“ forderte Pia Ziefle die Leser auf, ihr eigenes Verhalten im Alltag zu überdenken – regen wir uns bei prism und tempora über den Generalverdacht und die Verletzung der eigenen Privatsphäre auf, handeln aber genau wie die Geheimdienste der Welt, indem wir auf facebook-Profilen von Ex-Freunden rumstalken und die neuen Nachbarn googlen? Sie fragt uns, wo fängt denn Überwachung an und wo hört sie auf? Ich werde mich zwar nicht der Meinung anschließen, unser eigenes Verhalten im Internet legitimiere die Methoden der Geheimdienste. Aber in der Debatte, wie Eltern ihre Kinder schützen können, welche Räume sie schaffen, welche Ängste, auch bei sich selbst, sie vielleicht schüren – da passt die Analogie wie Faust auf Auge. Unter dem Vorwand der Sicherheit schlagen wir einander vor, die Kinder per Smartphone-App zu überwachen. Weil wir uns Sorgen um sie machen. Mit der gleichen Begründung lasen Mütter früher Tagebücher ihrer pubertierenden Kinder. Die Sache mit der nahtlosen Überwachung per GPS-Signal ist in meinen Augen aber noch perfider.

Wir haben die Pflicht, uns um unsere Kinder zu sorgen. Wir dürfen nicht immer wissen, wo sie sind. Gönnen wir ihnen die paar unbeobachteten Momente ihrer Kindheit. Aus einem einfachen Grund:

Die Fische im Kinderlied fürchten sich vor dem Hai. Sie schaffen sich einen künstlichen Schutzraum, einen kleinen Teich. Kaum sind sie alle darin, kriegt der Hai spitz, was Sache ist, und holt sie sich. Er hat es dabei noch viel einfacher als im Meer, denn der Teich, den sich die Fische extra ausgesucht haben, ist zu klein, um sich zu verstecken.

Der Preis für den künstlich geschaffenen Raum ist hoch, denn die Fische müssen aus ihrem natürlichen Lebensraum fliehen. Dennoch bietet der Raum am Ende keine Sicherheit, wie sich die Fische versprochen hatten.

Und auf die Kinder bezogen:

Du kannst den Raum um das, was Du liebst, enger machen. Aber irgendwann wird das, was Du zu beschützen versuchst, darin umkommen.

Die diffuse Gefahr eines Hais im Meer rechtfertigt keine Überwachungsmaßnahmen, weder im Kleinen, noch im Großen.

(Bild von unserer Mittleren: “Wir fliegen einfach weg”)

  1. Wie wahr! Auch kleinere Kinder brauchen Freiräume, Jugendliche erst recht. Und wir Alten müssen/dürfen damit leben, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben.
    Übrigens: Die Kinder werden gar nicht mehr waldrutschen oder freihändig fahren wollen. Denn dann können sie nicht mehr smartphonen: http://bit.ly/16YETyk

    • Ach, ja! Seufz. Den Artikel über die nicht mehr Fahrrad fahrenden Kinder habe ich auch gelesen… Vielleicht müssen wir sie doch vor etwas schützen? Davor, das wirkliche Leben zu verpassen? Aber wie viel vom wirklichen Leben findet heute im Internet statt? Ich bin, wie zuvor auch, hin- und hergerissen:) Danke für Kommentar und Link zum Artikel!

  2. Was die Freiräume für Kinder angeht, stimme ich dir voll zu!

    Im späteren Textteil wundert mich aber, dass du das Googeln fremder Menschen, die evtl. grade zu Bekannten werden (Nachbarn, Geschäftspartner etc.) einer geheimdienstlichen Überwachung gleich stellst!

    Es ist ein Riesenunterschied, allgemein zugängliche, der Öffentlichkeit bewusst zur Verfügung gestellte Infos nachzuschlagen ODER jemanden zu ÜBERWACHEN, also gegen dessen Willen Daten abzuschöpfen, die er/sie eben NICHT heraus geben wollte bzw. gar nicht erfasst haben will.

    Per Google findet man genau das, was die Leute zur Selbstauskunft einstellen: FB-, Linkedin,- Xing- und andere Profile, ihre Blogs und sonstigen Veröffentlichungen – alles extra eingestellt, damit die Welt es sehen kann, ja sehen SOLL.
    Warum um Himmels Willen soll man das nicht ergoogeln dürfen?

    • Hallo liebe Claudia,

      schön, dass Du mal wieder hier bist;) Wenn Du Dir die Stelle und ggf. die Links noch einmal anschaust, siehst Du, dass es sich dabei nicht um eine Gleichsetzung meinerseits handelt, sondern um eine Frage von Pia Ziefle. Die Diskussion kannst Du auf carta nachlesen. Ich bin in diesem Punkt ganz Deiner Meinung: Was öffentlich ist, ist öffentlich. Ich habe aber beim Thema Kinder und deren “Schutz” eine deutliche Analogie zu Pias Argumentation gesehen und sie daher an dieser Stelle sehr knapp wiedergegeben. Es ging ihr unter anderem um den Punkt, ob nicht auch wir analysieren sollten, wie viel wir mit der Technik anfangen, nur weil wir es können. Wie gesagt (und oben im Text ausdrücklich geschrieben), ich kann mich dieser Meinung nicht anschließen – ich verstehe aber die Argumentation und nehme mir das jetzt, eben nicht nur, aber vor allem, in Bezug auf die Kinder noch stärker zu Herzen.
      Es grüßt Dich
      juna

  3. Liebe Juna, da hab’ ich dann wohl mal wieder zu schnell / flüchtig drüber gelesen, bzw, gleich – und zu unrecht – angenommen, dass du ihre Meinung in Sachen googeln teilst. Sorry, ich werde versuchen, mich zu bessern! Und schau mir jetzt mal den verlinkten Beitrag an….

    • Das macht mir nichts;) Ich freue mich über jede kritische Nachfrage. Habe Deinen Kommentarwechsel bei carta mitverfolgt. Ich finde gerade die unterschiedliche Wahrnehmung beim Online/Offline-Kontakten sehr wichtig zu bemerken. Vielen Menschen, die das Web 2.0 benutzen, geht es zunehmend wie Dir. Und gleichzeitig lassen sich Offline-Beziehungen nicht immer reibungslos ins Netz übertragen, was sicher auch zu den von Pia bemerkten – nun, sagen wir: “Strategien”, die sicher nicht immer nur unter friendly stalking subsumiert werden können, führen. Es ist ein wahnsinnig schwieriges Thema, und ich habe gerade erst angefangen, mich mit den Abgründen zu befassen;) Im neuen Blogpost geht es um praktizierten Datenschutz und Unwissenheit, und ich lerne täglich Neues. So gibt es z.B. eine facebook-Gruppe, die sich unter dem Stichwort der medialen Selbstbestimmung dafür einsetzt, keine Kinderfotos ins Netz zu stellen. Wahnsinnig interessant, habe ich mir bisher nicht genügend Gedanken zu dem Thema gemacht. Wichtig scheint mir, dass jede/r alle Fakten kennt, bevor er/sie seine/ihre Entscheidung in puncto öffentliche Daten und partieller Verzicht auf Privatsphäre trifft. Diese Entscheidungen können ganz unterschiedlich sein. Ich denke aber, viele sind sich immer noch nicht der Tragweite dessen, was wir alle gerade erleben, bewusst, und kennen die Fakten gar nicht. Wissen auch nicht, was sie tun. Merkel hatte am Ende Recht. Neuland;) Entschuldige, langer Kommentar:)

  4. In diesem ging es um die Nachbarn, die die App „Line“ auf ihren Smartphones benutzen, um ihre Treffen besser koordinieren zu können, und um die achtjährige Freundin der Großen, die zu ihrem Geburtstag jetzt ein eigenes Smartphone geschenkt bekommen hat.

    Das ist ja interessant! Line fasst Fuß in Europa?

    Wenn ich meinen Freunden die Line App zeige, dann schauen die meisten nur erstaunt, weil sie diese wirklich gar nicht kennen. Ich hab die in Asien kennen gelernt, als ich neun Monate dort gewohnt und gearbeitet habe. Alle meine Freunde in Asien haben diese App und jetzt ist es die einzige Verbindung neben Facebook nach Asien.

    In Asien sind E-Mail Adressen eigentlich nicht existent – sie wurden von Facebook abgelöst. SMS wurden von Line abgelöst. Ich fand es sehr gewöhnungsbedürftig, dass jede Bewegung, das Essen und überhaupt alles was passierte in Asien von Freunden und Bekannten auf Facebook getrackt worden ist. Im Grunde ging es nur darum alle andere Bekannten zu beeindrucken; das hat Seraphyn ganz gut auf den Punkt gebracht [1].

    In diesem Sinne, ein schönes Wochenende!

    [1]: http://seraphyn.teiko.org/archives/falsches-sozialnetz.html

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