[CW] Trauer, Tod
Du hast mich heute im Traum besucht. Mit meiner Freundin war ich auf einer Veranstaltung, auf die Du früher jedes Jahr gegangen bist. Wir kannten ein paar der Anwesenden und standen gemeinsam herum, als Du aus dem Fahrstuhl stiegst und unter großem Hallo mit Begrüßungsgesten nach links und rechts direkt auf mich zugingst. Du heiter, ich völlig fassungslos. Wir umarmten uns fest. Ich musste mich etwas auf die Zehenspitzen stellen, denn ich hatte flache Schuhe an. Du umfingst mich und hieltest mich sicher. Ein einfaches „Na“ war Deine verbale Begrüßung.
Ich wiederholte immer „Du hier, ich fass es nicht“, bis ich hemmungslos anfing zu weinen. Ich suchte Halt in deiner etwas verschlissenen braunen Lederjacke und heulte in sie hinein. Du kommentiertest: „Wein nur, wir sind unter uns. Ist ja nicht so, dass Du von 100 Leuten angeschaut wirst und alle sich fragen, was mit Dir wohl los ist.“ Ich konnte das Grinsen in der Stimme hören. Dein nordischer Einschlag war deutlich stärker als früher, aber die Herzlichkeit und Offenheit in Deiner Stimme, Deiner Umarmung, Deiner Präsenz: Es warst unverkennbar Du.
Oder doch nicht? Ich hielt Dich ein Stück weg und sah Dich an. Das Haar trugst Du etwas länger als früher, und Du warst in der Zwischenzeit komplett ergraut. Du hattest einen Vollbart, der kaum mehr war als ein Drei-Tage-Bart. Auch dieser grau, keine Spuren mehr von hellbraun. Unter den grauen Augenbrauen, die in Deinem erheiterten Gesicht schräg in der Mitte zusammenliefen aber: Die gleichen hellen, klugen Augen wie immer. Die gleiche vorstehende Nase, das gleiche Wohlwollen mit einer Spur Besserwisserei im Lächeln.
Ich wollte so vieles wissen, fragte Dich ─ erst nach den Toten, dann nach den Lebenden. Du machtest eine Geste, die bedeuten sollte: „Später, wir haben Zeit“ und fragtest mich nach … twitter!
„Wieso bist Du nicht mehr dort? Früher warst Du so gerne Teil jedes Diskurses.“ An meine Erklärung kann ich mich nicht mehr erinnern, ich muss Dir wohl eine eher langwierige Antwort gegeben haben, aus welchen zehn guten Gründen meine Lieblingsplattform und ich uns auseinandergelebt haben. Am Ende sagtest Du: „Schön und gut, wenn Du Dir das einredest, aber wenn Du ganz ehrlich zu Dir bist, dann geht es um die eigene Auslöschung. Du entziehst Dich, Du entziehst Deine Stimme dem Netzwerk und ─ wenn ich mir Deine anderen Online-Aktivitäten ansehe ─ der Welt. Wie kommt’s?“
Ich lachte und sagte, „Erzähl Du mir vom Sich-Entziehen! Der Tod ist ja wohl der ultimative Entzug! In fünf Jahren reden wir nicht ein einziges Wort. DAS ist ja mal Weg-vom-Fenster!“ Du lachtest laut und sagtest dann: „Das kommt vor“. Ich fragte: „Was, der Tod?“
Deine Antwort, mit einem Lächeln, das Dein gesamtes Gesicht erfasste und Deine Augen leuchten ließ, war das letzte, das ich hörte, bevor ich aufwachte:
„Ja“.
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Du fehlst. In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder an Dich gedacht. Es ist eine andere Welt, seit Du tot bist. Es fühlt sich wie ein anderes Leben an, seit wir uns kannten. Ich hätte Deinen Scharfsinn gebraucht, Deine schonungslosen Einordnungen. Ich hätte Deine Erinnerung gebraucht: „Aber Frau ImNetz, wissen Sie denn nicht, dass wir alle auf unsere eigene Weise Arschlöcher sind?“
Als ich aus meinem Traum aufwachte, war die Trauer so groß, so elementar, dass sie den ganzen Körper, ach was, den ganzen Raum beherrschte. Aber noch etwas anderes war da: Tiefe Dankbarkeit, dass Du vorbeigeschaut hast. Tiefe Dankbarkeit für die Erinnerung an Dich. Dankbarkeit für die aktualisierte Version von Dir. Und das Gefühl, dass auch dort, wo Du bist, die Zeit sich ähnlich verhält.
Versteh mich nicht falsch: Du weißt, ich bin letztlich auch Wissenschaftlerin. Ich weiß um die Biochemie meines Gehirns und um die Tatsache, dass mein Unterbewusstsein versucht, sich auf die Dinge einen Reim zu machen. Aber der Tod ist Schlafes Bruder. Thanatos und Hypnos. Und solange wir nur Menschen sind ─ unvollständig, tendenziell eher dämlich und immer nur mit der aktuellsten Version des Irrtums bewaffnet ─ gibt es die Möglichkeit, dass dieser Besuch ein Geschenk von Dir war.
Rainer
Nach dem Lesen dieses Blogposts möchte ich Dich einfach in den Arm nehmen und sagen „am Ende wird alles gut und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende“. Und ja, mein Herz macht immer einen (Freuden)Sprung wenn ich etwas von Dir lese oder mal gelegentlich einer meiner Mastodon-Tröts von Dir ein Sternchen angeheftet bekommt, aber die Frequenz ist leider so niedrig, dass ich im Oktober dann einen Herzschrittmacher bekomme um noch ein paar Runden um die Sonne mehr absolvieren zu können. Hab Dich von Herzen lieb, auch wenn das gerade sehr langsam läuft.
junebug
Liebster Rainer, es geht mir gut. Also, das was man so im Allgemeinen als gut bezeichnen kann. 🙂 Mein Traum-Steffen hatte schon ganz recht: Ich habe mich weit zurückgezogen und das hat ganz verschiedene Gründe, wie ich heute glaube. Vielleicht ist es ja der Start zu einer etwas höheren Frequenz, in der wir uns hier an dieser Stelle im Netz lesen? Immerhin: von 1 x pro Jahr bloggen auf 2 ist doch ein guter Zuwachs.
Jetzt zu den wirklich wichtigen Dingen: Dir. Ich schreibe Dir via Signal.