„I can’t get to sleep. I think about the implications of diving in too deep and possibly the complications.“
Colin Hay, Overkill
Der fast noch volle Mond ist durch die Wolkendecke nicht zu sehen und macht dennoch die Nacht unwirklich hell. Von der Dachterrasse aus sehe ich so ziemlich jede Kontur unserer Nachbarschaft. Die Kräne der nahen Baustelle leuchten in freundlichem Gelb und scheinen sich vor ihrem nächsten Einsatz auszuruhen, einander zugewandt, wie im leisen Gespräch. Hören kann ich nichts. Ein Viertel, das tagsüber nicht zum Schweigen zu bringen ist – voller Laubbläser, Müllautos, Kinderstimmen, Renovierungslärm (liebe Nachbarn, zumindest Sonntags müsst ihr doch keine Löcher in die Wand bohren!) – liegt eigenartig still da. Im Nachbarhaus brennt Licht, vermutlich hat die Kleine den jungen Eltern eine unruhige Nacht beschert. Schräg gegenüber hat jemand vergessen, das Flurlicht auszuschalten. Im Küchenfenster darunter hängt ein kleiner Weihnachtsstern im Fenster. Es ist friedlich. Das ist schön. Ich höre alle meine Gedanken. Das ist nur so mittel.
Zum Beispiel denke ich daran, wie meine Kollegin das vergessene Flurlicht wohl fände. Ich muss über meinen Physiotherapeut grinsen, der mit seinen Sprüchen einen eigenen Blogpost verdient hätte. Zwei schwierige Gespräche rotieren in meinem Kopf; ich drehe einzelne meiner gesagten Sätze herum und herum. Meine Zunge fühlt sich seltsam an, vermutlich hat mein Retainer eine scharfe Kante bekommen. Ich muss also wieder zum Kieferorthopäden. Was der sich in den Jahren unserer Behandlung wohl allein durch uns hat leisten können? Für eine Badrenovierung sollte es gereicht haben, vielleicht sogar mit Whirlpool-Wanne. Habt ihr schon mal nachts an die vermeintliche Whirlpool-Wanne eures Kieferorthopäden gedacht? Nein? Verstehe ich nicht.
Die Gesundheitskosten dieses Jahr gehen in unserer Familie durch die Decke. Wundervoll, denke ich auf meiner Dachterrasse: Nachts um drei über Finanzen nachzudenken ist der beste Garant dafür, bis zum Morgen kein Auge mehr zuzutun. Ein anderer ist Teekonsum. Mein Tee ist mittlerweile alle, vielleicht koche ich mir noch einen neuen. Dann werde ich etwa alle halbe Stunde aufs Klo müssen. Altern ist schön.
Also gut, ich bin wach, alles ist so still, warum schreibe ich nicht etwas in dieses Internet? Der Sperrbildschirm meines Laptops verkündet mir 20 Minuten lang, dass die Ladung leider noch nicht ausreicht. Noch mehr Zeit, mir Gedanken zu machen, jippieh.
Heute habe ich auf der Arbeit keine Meetings, sondern Fokuszeit eingetragen. Ich muss ein paar Texte fertig bekommen und frage mich, ob ich in der Lage sein werde, meine übermüdeten Gehirnzellen dafür in Formation zu bringen. Die Chancen stehen erfahrungsgemäß nach so einer Nacht nicht gut. Andererseits: Kaffee. Für die Magenschleimhaut gibt es Pantoprazol, für eventuellen Kopfschmerz Ibuprofen. Ein Hoch auf die moderne Medizin, die es mir möglich macht, weiter zu funktionieren.
Demnächst hat meine erste große Liebe Geburtstag. Das Datum vergesse ich nicht, nie. Ich vergesse aber dann gelegentlich, mich an dem Tag auch zu melden. Paradox. Was war Dating eigentlich damals, denke ich bei mir. Das waren die 90er, wir hatten keine Textnachrichten, die man überinterpretieren, keine Instagram-Accounts, die man mit detektivischem Scharfsinn auseinandernehmen konnte. Man hat sich irgendwie in seinem Leben getroffen und sich dann auf ein Treffen zu zweit verabredet, und dann wartete man mit Herzklopfen irgendwo herum, nicht wissend, ob die Verspätung auf einen liegengebliebenen Bus zurückzuführen ist oder ob man gerade schnöde versetzt wird. Das war ja auch nur im Rückblick betrachtet schön und romantisch.
Ich unterhalte mich blendend mit mir selbst, muss ich an dieser Stelle gestehen. Ich bin dazu übergegangen, ganze Unterhaltungen in meinem Kopf in Liedzeilen zu führen und mir Anlässe auszudenken, an denen ich dieses Kunststück vorführen könnte. Vielleicht auf dem nächsten runden Geburtstag? Bei Tageslicht wirke ich wie ein Mensch, der sein Leben im Griff hat. Meine aktuelle und hoffentlich vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit ist selbst für mich ein etwas harter Kontrast.
Habe ich etwas falsch gemacht, bevor ich ins Bett ging? Mal sehen, Salat zum Abendessen, check. Nicht mehr als eineinhalb Gläser Wein, das ist jetzt auch nicht so grauenhaft. Sport vorher, extrem anstrengend, sehr ermüdend, ich wollte eigentlich schon um acht schlafen. Dann aber habe ich noch gearbeitet und … hm, das und diese eine Textnachricht, mit der ich mich so schön aus meiner Komfortzone gewagt habe. Das wird es wohl gewesen sein. Damn, Juna, you know better.
Viel einfacher ist es natürlich, meine Schlaflosigkeit einfach auf die Perimenopause zu schieben. Die Hormone, werde ich heute im Büro seufzen, und meine leidgeprüften Kolleginnnen werden sagen, ach ja, Du sagst es. Heute wurde uns geraten, eine Selbsthilfegruppe für solche Gespräche zu gründen. Ich entgegnete, das hätten wir bereits. Wir würden es „Mittagspause“ nennen. Der Spruch war ein großer Erfolg, gemessen am Gelächter.
Mittlerweile ist es nach vier, in zwei Stunden klingelt der Wecker. Meditieren statt Schlafen? Soll ja ziemlich effektiv sein. Nur wie setze ich meine Gedanken auf Wolken und lasse sie vorüberziehen? Wie viele Wolken soll ich denn in meinem Kopf kreieren, damit die Rechnung aufgeht? Fragen über Fragen.
Dann vielleicht lieber Musik? Colin Hay für alle Schlaflosen da draußen. Ich sehe eure Lichter, ich fühle eure Nacht-Gedanken. Und ich wünsche euch und mir, dass es die nächste Nacht wieder klappt, das mit uns und dem Schlaf.
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