Das Netz ist das, was Du draus machst

Prokrastinieren mit Popsongs

PmP ─ Wings

Hier ist ein Screenshot aus dem Musikvideo von Birdies "Wings" zu sehen. Eine junge Frau liegt in auffallender Kleidung auf einem Sofa und scheint gerade aufzuwachen


Die Kinder sind mit ihrem Papa im Urlaub. Eine Woche unstrukturierten Raums liegt vor mir. Ich weiß nicht, was ich zuerst machen soll – ich könnte tanzen gehen, endlich die total versiffte Bude aufräumen, dieses eine Projekt beginnen, das ich auf der To Do-Liste habe. Oder ich prokrastiniere einfach mit Popsongs! Ist sowieso viel zu lange her …

Der Beginn des Songs „Wings“ von Birdie ist musikalisch gesehen ziemlich episch. Nach einem Crescendo folgt eine einfache gebrochene Akkordfolge auf dem Piano, dann nimmt sich das Schlagzeug Raum. Bevor die Lyrics einsetzen, pausiert es und nur mit Begleitung des Klaviers hören wir die ersten Zeilen:

Sunlight comes creeping in

Illuminates our skin

Im Präsens wird eine Szene gezeichnet, in der das Sonnenlicht sich durch Widrigkeiten hindurch Eintritt verschafft. Es beleuchtet die Haut, im interpretatorischen Spielraum: Nackte Körper.

We watched the day go by

Stories of all we did

Wiederaufnahme eines noch nicht näher bekannten „wir“. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass das lyrische Ich und mindestens eine weitere Person die Nacht gemeinsam verbracht haben und nun dem Sonnenaufgang beiwohnen. Allerdings wechselt die Zeitform. Im Präteritum wird über einen Tag ─ den vorhergehenden? ─ berichtet, der gemeinsam erlebt wurde. „Stories of all we did“ spricht für eine augenblicklich erfolgende Reflexion über die Ereignisse. Bemerkenswert ist die Irritation, die durch den Wechsel in die Vergangenheit ausgelöst wird. Wird hier linear berichtet oder assoziativ?

Der anschließende Refrain eröffnet gerade in seiner Wiederholung einen weiteren Fragenraum:

It made me think of you

It made me think of you

Die die Haut beleuchtende Sonne lässt das lyrische Ich an eine andere Person denken ─ die gleiche aus den ersten Versen? Doch worauf bezieht sich das „it“ am Anfang des Satzes? Auf die Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit? Das Sonnenlicht? Die Geschichten eines geteilten Erlebnisses?

Under a trillion stars

We danced on top of cars

Took pictures of the stage

So far from where we are

Das klingt berauschend, da will man dabei gewesen sein. Das lyrische Ich schwelgt in Erinnerung an eine Nacht, aber es bleibt weiterhin unklar, welche genau gemeint sein könnte. Das Geschilderte mutet zugleich romantisch und ein wenig verrückt an. Auf welchen Autos wurde getanzt? Waren wirklich so viele Sterne zu sehen? Ist der Hinweis auf eine „stage“, also: Bühne, ein Verweis auf die shakespearsche Lebensbühne („all the world is a stage“), oder wird hier die Künstlichkeit, möglicherweise sogar Gestelltheit der Ereignisse angesprochen? Oder gibt es eine tatsächlich existierende Bühne in der Geschichte?

Der letzte Vers kommt fröhlich alliterierend daher und beantwortet keine einzige Frage. Was bedeutet „so far from where we are“? Waren die Protagonisten dieser Nacht ihrer selbst entrückt? Sind sie heute an einem anderen Punkt in ihrem Leben, an einem anderen Punkt in ihrer Beziehung zueinander? Haben die unmittelbaren und in der ersten Strophe angedeuteten Ereignisse mit diesem Abstand zu sich selbst zu tun? Und wo können wir die Bilder dieser Nacht sehen? Gibt es die auf instagram?

They made me think of you

They made me think of you

Diese beiden Verse sind eine Wiederholung mit leichter Abwandlung: Aus dem „it“ wird ein „they“, und erneut bleibt offen, was hier wiederaufgenommen werden soll. Die Bilder, die Sterne, die Autodächer? Es ist frustrierend.

Fest steht lediglich: Die Szene, die das lyrische Ich beschreibt, ruft erneut die Gedanken an eine Person wach. Man fragt sich, wie in einer solchen Nacht überhaupt Gedanken Raum finden können, aber hören wir weiter:

Oh, lights go down

Spannend. Eine weitere Theater-Referenz. Wir bleiben also in der Bühnenthematik.

In the moment, we′re lost and found

Und wir haben eine Metapher, meine Damen und Herren.

Side Note: „Wie kann ich denn eigentlich eine Metapher von einem Vergleich unterscheiden“ höre ich meine schulgeplagten Kinder fragen. Sehr einfach: Bei einer Metapher fehlt das „wie“, siehe: „Er war stark wie ein Löwe“ vs. „Er war ein Löwe“. Hättet ihr das mal früher gewusst, oder?

Aber zurück zu Birdie. Das lyrische Ich inkludiert das noch offene, unkronkret bleibende „wir“, bezieht sich auf einen Moment innerhalb der geschilderten Ereignisse und setzt die beteiligten Personen mit einem Fundbüro gleich, was zusätzlich noch ein totum pro parte ist. Gemeint ist vermutlich eher ein Gegenstand in einem Fundbüro, und noch weiter aufgeschlüsselt: Die Emotion des Verlorenseins und nicht Abgeholt-Werdens. Der Refrain geht weiter:

I just wanna be by your side

If these wings could fly

Das lyrische Ich folgert in seiner Entrücktheit: „Ich will eigentlich nur bei dir sein ─ wenn diese Flügel nur fliegen könnten“. Die Flügel sind hier nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen: „If these wings could fly“ spricht für einen inneren Konflikt zwischen Leichtigkeit, Inspiration, Abenteuer und Zugehörigkeit ─ zwar tragen die eigenen Flügel in wunderbare und verrückte Höhen, dem eigentlichen Ziel scheinen sie jedoch nicht nahe zu kommen.

Oh, damn these walls

In the moment, we’re ten feet tall

Nun hören wir zum ersten Mal von Mauern, die das lyrische Ich aufhalten – es gibt also nicht nur flugunfähige Flügel, sondern einengende Mauern. Der nächste Vers beschreibt einen spannenden Gegensatz: In dem weiterhin im Ungefähren bleibenden Moment fühlen sich die Beteiligten „ten feet tall“ und müssten damit streng genommen die Mauern überragen.

Der nächste Vers leitet die Rückkehr in die Erinnerung ein:

And how you told me after it all

We′d remember tonight

For the rest of our lives

Spätestens hier stellen wir ernüchtert fest, dass eine Interpretation Vers für Vers bei diesem Song wenig zielführend ist. Die Gedanken, die hier aneinandergereiht werden, folgen keiner linearen zeitlichen Anordnung, sie scheinen assoziativ, springend, immer wieder durchbricht die Reflexion den eigentlichen, gelebten Moment. Hier ist bemerkenswert, dass es dem angesprochenen „Du“ ähnlich zu gehen scheint, denn dieser noch im geteilten Erleben gemachte Vorgriff auf zukünftiges Erinnern kommt nun von einer anderen Person als dem lyrischen Ich selbst. Da haben sich die Richtigen gefunden. Die nächste Strophe beginnt wie folgt:

I’m in a foreign state

My thoughts, they slip away

Hier verabschieden wir uns scheinbar endgültig vom Leben im Moment. Der angesprochene „foreign state“ kann sowohl wörtlich ─ „in einem fremden Land“ ─ als auch metaphorisch ─ „mir selbst fremd“ gelesen werden. Die wegrutschenden Gedanken wiederum kann die geneigte Hörerin nachvollziehen, ist sie diesen doch bereits den halben Song lang detektivisch auf der Spur und versucht, irgendwo im rauschhaft Erlebten eine Kohärenz zu kreieren. 

My words are leaving me

They caught an aeroplane

Das lyrische Ich drückt nun Sprachlosigkeit gegenüber dem Erlebten aus. Die Wörter, die eigene Ausdrucksfähigkeit, werden personalisiert. Sie sind nicht „weggerutscht“ wie die Gedanken, sondern haben sich selbständig einen Flug organisiert. Mit unbekannter Destination.

Because I thought of you

Just for the thought of you

Erneut erscheint der bereits bekannte Vers in einer leichten Abwandlung. Die Unfähigkeit, sich auszudrücken wird mit den wiederkehrenden Gedanken an die Person begründet. Der Rest der Lyrics ist bereits bekannt, die Verse wiederholen sich in leicht abgewandelter Anordnung. Zuletzt hören wir den Wunsch:

I just wanna be by your side

If these wings could fly

For the rest of our lives. 

Ein wunderschöner Song mit Raum für Interpretation. Zurück bleibt der Eindruck, dass die Lyrics Momentaufnahmen assoziativ aneinanderreihen, immer wieder Gedanken und Erinnerungen auslösend. Wo auf der Zeitachse sich das lyrische Ich befindet, bleibt ein Geheimnis. Es könnte trotz des Präsens in den ersten Versen ein langer Zeitraum zwischen dem Erlebten vergangen sein, der gesamte Song damit ein wehmütiges Erinnern an längst Vergangenes. Wer genau mit „you“ angesprochen wird und ob es sich die gesamte Zeit um ein- und dieselbe Person handelt, ist auch zum Schluss des Songs vage. Und so scheint der passendste Abschluss für diese Ausgabe von Prokrastinieren mit Popsongs von Brecht zu kommen: 

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen. 

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