Fragt man meine Mutter, ist diese Geschichte nie passiert. Ihre beständige Leugnung gegenüber meinen Erlebnissen habe ich viele, viele Jahre nicht verstanden. Bis ich selbst Kinder hatte. Dann plötzlich dachte ich, oh, ja, klar, dass das eigene Gehirn das Problem auf diese Weise löst! Und ich schmiss den einzigen physischen Beweis, dass alles genau so und nicht anders passiert war, in die Mülltonne. Ich brauchte ihn nicht mehr.
Beginnen wir doch von vorne, sofern es ein „vorne“ überhaupt gibt.
1994 war ich 14 Jahre alt und stand auf einen Jungen in meiner Parallelklasse. Ich hatte vor kurzem mit Volleyball angefangen und war darin außerordentlich mäßig. Etwas besser erging es mir in den Tanzkursen. Mein Mathelehrer hasste mich mit Inbrunst ─ dieser Blog kennt ihn gut, die Älteren unter Euch erinnern sich ─ und ich hasste ihn zurück. Meine Eltern fand ich damals auch im Großen und Ganzen nicht so besonders. Sie hatten sich zwei Jahre zuvor getrennt und meine Mutter hatte einen neuen Partner mit zwei Kindern in ähnlichem Alter. Wir gaben uns Mühe, meine Mutter, mein Bruder, mein leiblicher Vater und ich. Alle nach ihren Möglichkeiten, alle zu häufig mit mangelndem Verständnis für die Mühen der anderen. Der Mittwoch Abend war für meinen Vater reserviert. Wir fuhren zu Mc Donalds, schauten die Indianer von Cleveland oder Indiana Jones auf VHS, manchmal schliefen wir auf seiner Couch. Eines seiner selbstgemalten Ölgemälde über der Schlafcouch brannte sich im Dämmerlicht auf unserer Netzhaut ein, während wir beide lange nicht einschlafen konnten ─ eine Szene aus Afrika mit zwei Gazellen.
An beinahe allen anderen Tagen: Meine Mutter, zwischen neuer Beziehung, alten Wunden, eigenem Freiheitsdrang, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und der immer immer immer lastenden Verantwortung für unser Überleben. Dabei waren mein Bruder und ich nach eigener Wahrnehmung „unsupervised since 1993“. Eigentlich wusste niemand je so recht, wo wir uns aufhielten. Zwar gab es Regeln. Manchmal gab es sogar Konsequenzen. Aber wie oft ich aus eigenem Vergessen, wann ich hätte zuhause sein sollen, um jemanden dort vorzufinden, durch unser Badezimmerfenster eingebrochen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht mehr, wie oft ich verschrammt und verschlammt nach Hause gekommen bin und meine Mutter bewusst entschieden hat, mich jetzt nicht anzuschreien. Ich weiß nicht mehr, wie wir in einer Telefonzelle standen, mein Bruder und ich, und die dienstliche Nummer meines Vaters wählten, weil unsere Mutter übers Wochenende zu ihrem Partner gefahren war. Und offenbar alle vergessen hatten, das zu besprechen. Ich kann in diesem Fall nur wiedergeben, woran mein Bruder sich erinnert. Dass ich die Nummer auswendig wusste. Dass es die Telefonzelle beim Friseur auf der anderen Straßenseite war. Dass wir weder Schlüssel noch Klamotten dabei hatten. Dass mein Vater mit seinem Auto kam und uns abholte.
Viele Bilder aus dieser Zeit erscheinen mir zusammenhanglos aufzublitzen, keine Chronologie ist aus den schlaglichtartigen Momenten herauszulesen, die Länge meiner Haare ─ von Kurzhaarfrisur über Bob zu schulterlangen Haaren ─ ein seltener Indikator. Der schleichende Verlust des Babyspecks bei meinem Bruder und mir ein weiterer.
Umso deutlicher ist die Erinnerung an das Ereignis, das schon lange den Weg in diesen Blog finden sollte und es dennoch bis heute nicht geschafft hat. Die Bilder wie scharf gestellt, das Licht auf alles Erlebte scheinwerfergrell. Unser Kurztrip nach Paris.
Es war die erste Reise, die meine Mutter und mein späterer Stiefvater mit uns Kindern unternahmen. Ein paar Tage Paris mit dem Bus, Euro Disney Land und ein wenig Sightseeing. Wir schliefen in einem sehr einfachen Hotel in der Nähe der Sacré-Cœur ─ die Mädchen in dem einen, die Jungs in dem anderen, die Erwachsenen im dritten Zimmer. Die ersten Tage verbrachten wir weitestgehend im Park, ich erinnere mich an Spaß, an Leichtigkeit, an Übelkeit von zu süßem Zeug und an „It’s a small world“ in Dauerschleife. Auf französisch. Ich erinnere mich auch daran, dass ich Franzosen rücksichtslos und unhöflich fand.
Am letzten Abend, den wir in Paris verbringen sollten, hatten meine Mutter und mein späterer Stiefvater sich etwas Besonderes einfallen lassen: Statt der vom Busunternehmen angebotenen Lichterfahrt durch Paris ─ Abfahrt 22:00 Uhr, Place de la Concorde ─ wollten sie mit uns ein mehrgängiges Menü in einem französischen Restaurant genießen. Ich erinnere mich noch an das amüsierte Gesicht meiner Mutter, als wir alle Rinderzunge mit Salat serviert bekamen. Niemand von uns Kindern wusste, was sich da auf dem Salat befand, denn niemand von uns Kindern konnte auch nur ein Wort Französisch. Dennoch war es ein weitgehend harmonischer Abend ─ sofern das unter unseren Bedingungen überhaupt möglich war. Mit traumatisierten Jugendlichen zu reisen ist sicher eine Herausforderung für sich.
Irgendwann begann ein Argument, keine Ahnung, wie. Ich glaube nicht, dass es von uns Kindern ausging, aber ich weiß es nicht mehr. Meine Mutter hatte auf jeden Fall eine Lösung: Für die angebotene Lichterfahrt war es noch nicht zu spät, wir könnten es noch schaffen, wenn wir sofort losgingen. Das Restaurant war in fußläufiger Entfernung zum Place de la Concorde.
Allen war klar, dass es sich dabei nicht um eine liebevolle Empfehlung handelte, sondern um eine Anweisung. Und es gab nunmal Regeln. Gelegentlich gab es sogar Konsequenzen, also brachen wir auf. Meine Geschwister liefen zur Tür, durch die Tür hinaus, auf die Straße, waren verschwunden. Ich lief zur Garderobe, um mir meine Jacke und die Jacke meiner Schwester geben zu lassen. Eine halbe Ewigkeit später stand ich damit vor der Tür des Restaurants. Ich lief ein paar Schritte nach rechts und erkannte nichts. Ich lief ein paar Schritte nach links und erkannte nichts. Ich überquerte die Straße und, Ihr ahnt es. Als ich wieder ins Restaurant gehen und meiner Mutter gestehen wollte, dass ich die anderen verloren hatte und keine Ahnung habe, wie ich zum Place de la Concorde komme, stand mein späterer Stiefvater vor mir. Er drückte mir 50 Francs in die Hand und winkte ein Taxi heran. Er bat den Taxifahrer, mich zum Platz zu bringen, und verabschiedete sich. Ich hielt den Schein und die Jacke meiner Schwester in der Hand und sah auf die Uhr des Taxis: 21:56 Uhr.
Der Taxifahrer wiederum sah ein junges, verängstigtes Mädchen ohne jede Orts- oder Sprachkenntnis in seinem Rückspiegel und fuhr eine Viertelstunde lang um den Block, bis er mich endlich am Place de la Concorde rausschmiss. Das Wechselgeld an mich gepresst stieg ich aus. Völlig unfähig zu sagen, dass er mich wieder mitnehmen solle, denn der Bus war natürlich weit und breit nicht mehr zu sehen. Ich war über zehn Minuten zu spät. Meine Geschwister hatten vermutlich nicht mal geahnt, dass ich versucht hatte, ihnen nachzulaufen.
Durch die Taxifahrt, die jede Seitengasse zweimal nahm, war ich der letzten Orientierung beraubt. Ich war sowieso nie gut darin – Google Maps ist heute mein bester Freund. Ich versuchte probeweise, das Restaurant wiederzufinden. Gerne hätte ich jemanden gefragt, aber den Namen des Restaurants hatte ich mir nicht gemerkt. Gerne wäre ich in ein Taxi gestiegen und zum Hotel gefahren, aber ich wusste die Adresse des Hotels nicht. Ich wusste im Grunde überhaupt nichts. Ich war 14.
Ich tat das, was mir sinnvoll erschien. Während ich das Wechselgeld von der Taxifahrt verstaute und versuchte, mich von der vielspurigen Verkehrsführung am Place de la Concorde nicht verrückt machen zu lassen, stimmte ich „Lost in France“ von Bonnie Tyler an. Es war dunkel, die Scheinwerfer der Autos schnitten den leichten Nieselregen wie Messer, einige beleuchtete Fenster zeugten von der Anwesenheit ihrer Bewohner*innen, ansonsten waren die Straßen menschenleer.
Was wusste ich? Meinen Namen. Nicht schlecht. Guten Tag auf französisch. Gerade unbrauchbar. Dass 35 Francs praktisch sein könnten, wenn man versucht, in Paris zu einem Hotel zu finden. Dass unsere Metro-Station Invalides heißt und das Hotel Pax.
Was wusste ich nicht? Die Entfernung, die ich zurücklegen musste. Die Unwägbarkeiten des Pariser Metrosystems. Dass es damals ca. 630 Hotels mit dem Namen Pax in Paris und Umgebung gab. Warum man nicht auf mich gewartet hatte. Warum ich in ein Taxi gesetzt wurde. Warum ich jetzt hier stand, im Nieselregen, die Jacke meiner Schwester vor meiner Brust. Warum mich niemand lieb hatte und warum niemand auf mich aufgepasst hatte.
Der Eingang zur Metrostation war weithin sichtbar. Eine indifferente Angestellte kaute Kaugummi, während ich versuchte, die riesige Karte zu entziffern. Ich war dieser rote Punkt, aber wo war Invalides? Wo war die Sacré-Cœur? Welche Linie fuhr auch nur annähernd in die richtige Richtung, und wie sollte es überhaupt danach weitergehen? Wie sollte ich denn jemals das Hotel finden, wenn ich nicht mal wusste, in welche Richtung ich von dort aus laufen musste? Bonnie Tyler hatte ich längst ausgesungen, mir fehlte auch der Text der letzten Strophe und überhaupt: Ich war zwar lost in France, aber sicher nicht in love, Martin aus der Parallelklasse war ja gar nicht hier. Also tat ich das nun Logische: Ich fing an zu weinen.
„Tu vas bien?“
Ich drehte mich um, schaute den jungen Mann, der mich angesprochen hatte, verständnislos an.
„Tu vas BIEN?“
„Je ne comprends pas“, antwortete ich unter Tränen. Dann geschah das Wunder:
„Geht es dir gut?“
Schwarze Lederjacke, dunkle Haare, nur einen Schritt hinter ihm wahrscheinlich seine Freundin, die nun an mich herantrat.
Ich fragte, ob sie mich verstehen können. Beide bejahten, sie seien als dem Elsass und hätten in der Schule sehr gut Deutsch gelernt. Also erzählte ich unter Tränen, was mir passiert war und wie alleine ich mich gerade fühlte. Dass ich zwar ein paar Anhaltspunkte hätte, aber auf gar keinen Fall alleine zum Hotel finden würde. Dass ich keine Ahnung hätte, wie ich mich jetzt verhalten solle. Dass ich nicht mal wisse, wie ich eine Metrokarte kaufe. Ich hielt ihnen mein Geld hin und zuckte mit den Schultern. Die beiden sahen sich an, die junge Frau fasste mich am Arm und bat um einen kurzen Moment. Sie gingen zu vier weiteren jungen Männern, die etwas abseits standen. Nach kurzer Beratung kamen beide wieder auf mich zu: „Wir bringen dich dorthin“.
Was mir dann passierte, war so wunderbar, dass ich noch heute Mühe habe, die richtigen Worte zu finden. In Begleitung der jungen Frau, wir nennen sie Claudine, verkaufte mir die indifferente Angestellte am Schalter ein Metroticket. Ich stempelte die Karte auf Anweisung des jungen Mannes, nennen wir ihn Henry, und betrat mit der gesamten Gruppe die Station. Ich hörte, wie sie zu sechst diskutierten, welche Metro wir nehmen sollten. Fühlte, wie mich jemand am Arm nahm, als die Metro kam und wir einstiegen. Hörte die ersten Klänge der Gitarre, bis zu diesem Moment auf dem Rücken eines der jungen Männer verstaut, jetzt in seiner Hand. Wie das Lied, das alle angestimmt hatten und das ich nie wieder in meinem Leben gehört habe, durch einen Ausruf von Henry unterbrochen wurde. Fühlte wieder den Druck am Arm, als mich Claudine lachend aus der Metro zog, mir erklärte, dass das die falsche Richtung sei und dass das gelegentlich in Paris passiere. Bis heute sehe ich den türkisfarbenen Kajal, den sie unter ihren freundlichen braunen Augen trug, und ihre kinnlangen braunen Haare.
Wir fuhren gemeinsam unter Gitarrenbegleitung bis zur Station Invalides. Als wir ausstiegen, hatte der Regen zugenommen, aber Claudine spannte einen gelben Regenschirm auf. Sie hakte mich unter und gab auf französisch Anweisungen. Ihr Freund steuerte auf eine Telefonzelle zu.
630 Hotels mit dem Namen Pax in Paris und Umgebung. Über 100 rund um Sacré-Cœur. Immer noch etwa 30 in fußläufiger Entfernung von der Station Invalides. Das war das Ergebnis ihrer kurzen Recherche im Telefonbuch. Das richtige zu finden: Eine Aufgabe, die ich niemals alleine hätte bewältigen können.
Zu dritt in die Telefonzelle gequetscht, ruft Henry das erste Hotel Pax im Telefonbuch an. Keine Buchung auf unseren Nachnamen. Das zweite Hotel. Keine Buchung. Claudine drückt meine Hand, das wird schon, keine Sorge. Es klingelt beim dritten Hotel. Henry spricht auf französisch in den Hörer. Sein Gesicht hellt sich auf. Er ruft den anderen etwas auf französisch zu, die beginnen, vor der Telefonzelle zu jubeln und sich abzuklatschen. Er bittet um irgendwas, ich verstehe nichts. Er reicht mir den Hörer. Es klingelt.
Die Stimme meines späteren Stiefbruders:
„Hallo?“
Ich rufe erleichtert seinen Namen, sage so etwas Sinnvolles wie „Bist du da??“
Er entgegnet, langgezogen und deutlich irritiert: „Jaaaa?“
„Und mein Bruder, ist der auch bei dir?“
„Äh, jaaa?“ antwortet er und zweifelt vermutlich hart an meiner geistigen Gesundheit.
„Gut, dann komme ich jetzt!“ Hinter mir bricht stürmischer Jubel sechs junger Erwachsener aus, die einen Ferienabend in Paris geopfert haben, um ein junges verlorenes Mädchen zu ihrem Hotel zurück zu bringen.
Wir laufen eine Viertelstunde durch den Regen. Ich erkenne keine einzige Straße, keinen einzigen Wegpunkt wieder. War ich jemals zuvor hier? In diesem Moment weiß ich nur: Ich gehe, untergehakt bei einer jungen Frau, vor mir eine freundliche schwarze Lederjacke, hinter mir eine schnatternde, ausgelassene Gruppe Elsässer. Sie lassen mich nicht los, bis ich im Hotel stehe. Wollen, dass ich an der Rezeption noch einmal nachfrage, sicherheitshalber. Ich erkenne die kleine Hotellobby, den Fahrstuhl, bin sicher. Sie lassen nicht locker. Ich vergewissere mich an der Rezeption, dass ich im richtigen Hotel bin und bedanke mich unter Tränen. Und die Gruppe? Drückt mich, sagt ein paar liebe Worte und verschwindet in eine für eine Großstadt übermäßig dunkle Nacht, never to be seen again.
Auf dem Zimmer kommt mir meine Schwester entgegen, ich reiche ihr die Jacke. Sie bedankt sich träge, fragt aber nicht, wo ich gewesen bin. Ich frage nach, ob mich niemand vermisst hat. Ihre Antwort: „Wieso“?
Der Morgen danach war der Morgen der Abreise. Wir erschienen fertig gepackt zum Frühstück. Meine Eltern fragten, wie die Lichterfahrt war. Meine Geschwister entgegneten, sie sei langweilig gewesen. Ich sagte, ich könne es nicht sagen, denn ich hätte es nicht zum Bus geschafft und sei in Paris herumgeirrt. Meine späteren Stiefgeschwister sagten, Quatsch, laber nicht so ein Zeug. Meine Mutter sagte, Quatsch, Du warst natürlich dabei, hör doch auf mir Angst zu machen.
Mein Bruder drückte später meinen Arm und sagte: „Es tut mir leid, wie geht es Dir?“ Ich sagte, es ginge mir gut, und hielt in meiner Hand umklammert den grünen Papierstreifen mit dem Stempel der Metrostation. Den einzigen physischen Beweis, dass nichts davon Quatsch war.
Beitragsbild von Chris Molloy: https://www.pexels.com/photo/aerial-view-of-eiffel-tower-1308940/. DANKE!
Marco
Hat mich gerade getroffen und nachdenklich gemacht.
Schlaf gut
– Pudding
junebug
Das wollte ich damit nicht erreichen. Es ist eigentlich eine wunderbare Geschichte, die mir sehr viel Mut gemacht hat, in der Welt zu sein. Denn es gab Menschen, denen meine Situation nicht egal war.
Vielleicht hab ich sie schlecht erzählt. Habe ich sie Dir damals nie erzählt? Da kannste mal sehen … Runde um Runde gemeinsam um die Schule, vor allem im Jahr darauf, wenn ich mich richtig erinnere. Did not come up.
Immer Deine Gordon. Schreib mal privat, wenn Du Zeit hast! Würde mich sehr freuen zu hören, wie es Euch geht! 🙂
Valentin
Danke fürs Teilhaben lassen an dieser Geschichte und dem Erlebten.