Das Netz ist das, was Du draus machst

Allgemein

Von Kindheitsträumen, Massentourismus und Erwachsen-Werden

Hier sieht man ein Bild von zwei vollen Muscheleimern, gesammelt an der Adria

Urlaubsrückblick

Ein Vater brachte es mit liebevoll-amüsiertem Blick auf die Kinderschar, die sich vor den Mobilheimen auf unserem Campingplatz tummelte, auf den Punkt: „Als man klein war, fuhren die Eltern mit einem an die Adria, Riviera, Costa Brava oder Ostsee, um zu campieren und an bereits damals gut gefüllten Stränden zu liegen. Als Jugendlicher und Erwachsener ging man dann alleine auf Individualreisen und Rucksacktouren. Und heute karrt man die eigenen Kinder an die Strände seiner Kindheit.“
Alle Umstehenden lachten zustimmend.

Die 80er:
Ich werde gefühlt mitten in der Nacht (vermutlich also gegen 10 Uhr abends) geweckt und in ein mit laufendem Motor wartendes Auto getragen. Im Halbschlaf kuschele ich mich zu meinem Bruder auf die Rückbank, im Liegen schnallt uns meine Mutter kreativ an (Was sind Kindersitze?). Ich schlafe quasi sofort wieder. Das sich verlangsamende Auto und grelles Flutlicht wecken mich bei den Grenzübergängen. Mama kramt auf dem Beifahrersitz nach den Pässen, spätestens bei der zweiten Ländergrenze verstehe ich nicht mehr, was gesprochen wird. Manche Tankstellen sind hell beleuchtet. Beim Stillstand des Motors wache ich auf und muss aufs Klo. Mama trägt mich durch die kalte Nachtluft, die sich mit dem Autobahnduft mischt, in die sterile und unangenehme Beleuchtung einer Raststättentoilette, um mich dann im Auto zu ermahnen, gleich wieder einzuschlafen – der Weg sei noch weit.

Die Sonne geht auf und steht eine Weile so, dass ich mich zur Rückbank drehen muss, um weiterzuschlafen. Es gibt Kaffee, süßen Kakao und so eine Art Croissant zum Frühstück, an irgend einem Rastplatz schießt mein Vater Fotos vom Auto und meine Mutter schimpft, weil sie mit drauf ist.

Vielleicht zwei Stunden später ist das Land flach, und der Horizont birgt schon die Ahnung vom Meer.

Von den zunächst endlos scheinenden Wochen des Urlaubs erinnere ich mich am deutlichsten an ein blasses Blau, in das die Sonne alles taucht. Wie sich der Sand zwischen den Zehen anfühlt. Und dass das Meer dreimal anders schmeckt: Einmal, wenn ich am Strand ganz tief Luft hole und sich in Sonnencreme-Geruch und Algen ein bisschen Salz mischt, einmal, wenn ich beim Schwimmen versehentlich Wasser schlucke, und einmal, wenn das Meerwasser auf meiner Haut trocknet und ich das Salz ablecke, weil alles zu prickeln beginnt. Aus Erzählungen weiß ich von Ausflügen und Restaurantbesuchen. In der Erinnerung bleibt lediglich die Faszination über die Regelmäßigkeit und Perfektion von Schneckenhäusern, das abendliche vor lauter Wärme Nicht-Einschlafen-Können, und die leisen Stimmen meiner Eltern, weil Zelt oder Ferienhäuschen so hellhörig sind.

Heute:
Unter den fachmännischen Kommentaren meiner Nachbarn spiele ich Kofferraum-Tetris, bis wir abfahren. Obwohl wir in die Nacht hinein reisen und uns für sehr gewieft halten, geraten wir bereits in Deutschland in einen Stunden andauernden Stau. Zumindest sind die Kinder zu diesem Zeitpunkt endlich eingeschlafen. Kurz vor Österreich wird mir zum ersten Mal fassbar deutlich, durch welches Nadelöhr da tausende von Deutschen wollen, um an die Adria zu gelangen. Noch vor der Grenze schläft der Gatte ein, und ich erhalte die Anweisung, auf die A1 zu fahren. Während unsere parallel reisenden Freunde im Stau stehen, habe ich eine völlig freie Autobahn, wundere mich und lerne gleich etwas über die Geographie Europas. Wien, das liegt relativ weit östlich und ist nicht unbedingt die Richtung, in die wir wollten. Dafür rollt das Auto und die Kinder schlafen ruhig. Als der Gatte aufwacht, ist er über meinen ca. 300km-Umweg entsetzt. Die Kinder wachen von dem Krach auf, den er veranstaltet. Ich dagegen bin vergnügt. In der Nähe von Graz machen wir eine ausgedehnte Frühstückspause vor grandiosem Alpenpanorama. Wir wissen nun: Die Alpen können notfalls auch umfahren werden. Der Gatte ist dennoch nicht dankbar. Nun.

Auf dem Campingplatz angekommen (eine halbe Stunde nach unseren Freunden auf der, sagen wir, offiziellen Route) mache ich ein paar „Kraft durch Freude“-Witze, um die Erste mit dem Nazi-Vergleich zu sein. Zumindest lacht der Gatte wieder. Unser Freund kommentiert „Man spricht deutsch“, und ich bin erstaunt über die Selbstverständlichkeit, mit der genau das auch von vielen erwartet wird. Der Campingplatz befindet sich fest in deutscher Hand. Benachbarte Italiener gibt es vermutlich nur gegen Aufpreis. Ansonsten: Kinder. Jede Menge Kinder in Zelten, Caravanen, Mobilheimen und Bungalows. Die Anlage ist riesig, der benachbarte Ort wirkt wie für die Deutschen hinrestauriert. Irgendwie schön, aber auch irgendwie künstlich. Ein bisschen so, wie man sich Italien vorstellt, wenn man noch nie dort war. Das moderne Benidorm.

Strand, Strandbars, Ferienort, Campingplatz, Pizzerien, Supermärkte … Die deutsche Karawane aus Automobilen mit Dachboxen wälzt sich an die Adria, dreht sich 12 Tage in der Sonne, isst Wiener Schnitzel mit Pommes und wälzt sich wieder zurück. Morgens Schlange stehen für Brötchen. Denn der Deutsche braucht Brötchen. Der Italiener tut sein Bestes.

Abgesehen von meinem Zynismus finde ich aber auch meine Kindheit: Die Pinien duften, der Sand ist so fein, dass die Füße im Wasser sofort darin versinken, und das Meer schmeckt fantastisch: Total eklig und trotzdem irgendwie gut. Ich esse mit einigem an Überwindung die verschmähten Calamari meines Sohnes. Das werde ich wohl nie wieder tun, aber auch sie erinnern an frühe Urlaube am Meer. Einen ganzen Tag lang sammle ich Muscheln – und erfülle mir damit einen Kindheitstraum. An diesem Tag bin ich diejenige mit den zwei Sandeimern voller wunderschöner Muscheln, und kein Erwachsener erläutert mir, dass wir so viele gar nicht mitnehmen können.

Ich erinnere mich nicht an Streitereien mit meinem Bruder oder Gezicke wegen des Essens, der Freizeitplanung oder der Autofahrten. Als Erwachsene fällt mir dafür umso deutlicher auf, wie sich alle anzicken. Die Großen intern in ihren Paaren nicht ausgenommen. Ein solcher Urlaub ist ein Riesen-Kompromiss zwischen völlig unzuvereinbarenden Vorstellungen. Ich möchte Städte ansehen, Kultur genießen, Plätze abseits des Touri-Stroms sehen, Wein trinken und lesen. Die Kinder wollen möglichst 12 Stunden am Tag in einen Pool springen und Schnitzel essen. Der Gatte möchte einen Whirlpool, einen Großbildschirm für die WM-Übertragung, Ausflüge zu Boot oder zu Auto und möglichst wenig selbst erledigen. Und dazwischen schüttelt man sich einen Familienurlaub zurecht. Völlig wider Erwarten stelle ich dennoch in der zweiten Woche des Urlaubs fest, dass ich mich entspanne. Ich trage lediglich die mittlerweile durchgelatschten Flip Flops, mache ein paar Bilder von Venedig, trinke abends Wein auf unserer Veranda und vergesse, dass zuhause ein deutlicher Berg an Arbeit auf mich wartet. Auf der Rückfahrt genieße ich zum ersten mal ganz bewusst die freie Fahrt über die Ländergrenzen. Europa. Ach.

Wenn ich mir wünschen dürfte, was meine Kinder aus diesem Urlaub mitnehmen, dann wäre es quasi deckungsgleich mit meinen eigenen Erinnerungen. Denn Kinder merken nichts vom organisierten deutschen Massentourismus, und sie behalten auch ihre Streitereien untereinander nicht, oder das Gemeckere von Mama. Vielleicht aber behalten sie ein Leben lang diese Ahnung vom Meer, das kindliche Staunen über Krebse und Schneckenhäuser, das Schaudern, wenn Mama sie ermuntert, von einem Tretboot ins tiefe Wasser zu springen, den Anblick des Alpenpanoramas bei Villach. Und vielleicht sind sie selbst dann ebenfalls einmal in der Lage, das ganze Erwachsenen-Zynismus-Ding wegzuschieben und mit ihren eigenen Kindern dahin zu fahren, wo eben alle anderen auch hin wollen. Das wäre doch schön, oder?

Schreibe eine Antwort

%d Bloggern gefällt das: