Menschen. Sie neigen dazu, ihren eigenen Abstrakta einen ungeheuren Wert beizumessen. Dabei sind Konzepte von “Erfolg”, “Glück” oder auch “Familie” so ungeheuer kontextabhängig und daher sehr variabel. Gleichzeitig wird natürlich das Sprechen über, sagen wir, so abstrakte Gefühle wie Liebe oder Hass, sehr, sehr schwierig, wenn es nicht zumindest bestimmte Anhaltspunkte für eine Einordnung gibt. So einigen wir uns auf ein gesamtgesellschaftliches Bild eines bestimmten Gefühls oder Konzepts, und mit diesem vergleichen wir dann.
Das halte ich nicht weiter für schlimm, so lange man sich dessen bewusst ist. Was ich dagegen für sehr seltsam halte, seitdem es mir aufgefallen ist, ist das Zerfallen dieser Abstrakta in, bleiben wir beim pseudo-wissenschaftlichen Geschwätz, so etwas wie singuläre Ereignisse. Liebe ist nicht Wut ist nicht Angst ist nicht Hass ist nicht Mitgefühl ist nicht …
Warum?
Für mich stellen sich alle Abstrakta, die wir als “Gefühl” bezeichnen, als Facetten von Liebe dar. Angst, zum Beispiel vor dem Verletzt-Werden oder dem Sterben, ist die Liebe zum Leben. Sorge ist die Liebe zum anderen. Glück ist das Konzept, das wir im Grunde genommen mit der Liebe verbinden. Erfolg ist die Vorstellung von Erfüllung der Eigenliebe. Wut ist ein komplexes Gefühl, das viele Ursachen hat, aber immer aus Liebe entsteht. Mitgefühl ist Liebe zum sozialen Gefüge, in dem wir uns bewegen. Sogar Neid resultiert aus Liebe zu etwas, das wir gerne selbst hätten. Alles Facetten der Liebe. Alle unsere abstrakten Konzepte hängen miteinander zusammen. Da ist keine Singularität.
Allein die Gleichgültigkeit, die Abwesenheit von Gefühl, kann wohl als das Gegenteil der Liebe gelten.
Wenn Ihr also wütend, traurig, enttäuscht, verletzt, hilflos, ängstlich oder in Sorge seid: Denkt zwischendurch mal daran, dass Ihr eine Facette der Liebe fühlt.
Steffen
Liebe Juna,
ich möchte dir gern zustimmen, dass all die Negationen positiver Emotionen letztlich Aspekte desselben sind. Ich empfinde ja schließlich genauso.
Allein, ich kann es nicht. Zu erleben, wie jemand aus Bosheit Genuss daran empfindet, Dritte leiden zu lassen, das Gefühl der Macht auszukosten – das erdet gewaltig. Ich hoffe, dir bleiben derartige Erlebnisse erspart. Sie negieren aber eben auch deine These.
junebug
Lieber Steffen,
es ist mir nicht erspart geblieben, und, nein, das tun sie ganz und gar nicht. Nur ist es eine Form der Liebe, die sehr fremd erscheint. Nicht nur, weil ich selbstverständlich vereinfache – die Botschaft wollte es so, ich selbst bin völlig unschuldig 😉 – sondern auch, weil wir eine Art Skala akzeptablen, ja: normierten Verhaltens durch die Gegend tragen. Jemand, der einen anderen offenbar so krankhaft liebt, dass er sehen muss und will, wie er leidet, befindet sich “außerhalb des Radars”, und natürlich war dieser Blogpost auch nicht für die- oder denjenigen gemeint. Sondern für alle, die sich sorgen, zweifeln, Angst haben, traurig sind. Wütend sind. Sich an merkwürdigen Vorstellungen von Erfolg messen. Enttäuscht sind, von sich, vom Leben. Denen will ich sagen: “Ihr fühlt eigentlich Liebe.”
Ich bin gespannt, was Du sagst. Wenn Du magst.
Jan
Interessanter Gedankengang.
Seitdem ich auf die Idee gestoßen bin, dass Liebe und Angst Gegenspieler sind, hänge ich diesem Modell an. Das würde deiner These widersprechen, dass Angst aus einer gewissen Liebe erfolgt. Für mich sind die beiden unabhängig voneinander, beeinflussen sich aber stark.
Die Dinge, die wir aus oder mit Liebe tun, tun wir intuitiv. Das, was wir Bauchgefühl nennen, das was ohne Verstand klar, richtig und gut erscheint. Was und Erfüllung und Zufriedenheit gibt… oder geben würde. Die Angst entsteht dann im Kopf, geformt aus unseren Erfahrungen, aus unserem Wissen. Zweifel, Warnungen, Bedenken bringen und dazu unsere Liebe nicht auszuleben.
Über Glück und Wut habe ich mir in dem Zusammenhang noch keine größeren Gedanken gemacht, aber mein erster Einfall wäre, dass Glück entsteht, wenn wir der Liebe nachgehen und Wut, wenn wir die Liebe aufgrund der Angst (dauerhaft) zurückhalten.
marco
Liebe Julia.
Ich wollte mich schon ganz lange mal auf einem Blog zu Wort melden, aber entweder hatte ich nicht so richtig Zeit, zum Thema konnte ich nichts sagen oder irgendwas anders war immer.
Es hat ein paar Jahre gedauert (anfangs habe ich mich noch gewehrt), aber mittlerweile sehe ich das so ähnlich wie Jan. Es geht viel weiter, viel weiter über die Gefühle hinaus. Alles, was geschieht, lässt sich auf zwei Dinge zurückführen. Und das ist Liebe und Angst.
Wenn du über Wut sprichst, wenn du über Hass sprichst, dann sprichst du über ungelöste Konflikte. Konflikte, die nicht gelöst wurden, die sich längst auf andere Ebenen weitergeschoben haben. Wenn man das alles decodiert, dann endet man immer bei Liebe und Angst. Dort hört die Decodierung auf, denn es gibt nichts mehr zu decodieren.
Dies ist zumindest mein persönlicher Stand der Forschung. 😉
Schöne Grüße
Marco
junebug
Hallo, Marco!
Es ist immer großartig, einen ersten Kommentar von einem bisher stillen Leser zu bekommen! Danke!
Habe am Wochenende Deinen Text zu diesem Thema gelesen, und finde ihn wunderbar. Hier der Link für alle:
http://www.unmus.de/ungluecklich-bleiben/
Natürlich beharre ich weiter auf meiner Meinung ;-). Nach Eurem Einwurf muss ich aber differenzieren, und nehme mir heraus, in einem Kommentar Euch beiden zu antworten. Jan, Du schreibst, Angst entsteht im Kopf. Das glaube ich nicht. Angst ist zunächst eine körperliche Reaktion vor etwas, von dem wir aus irgend einem Grund ganz intuitiv spüren, dass es unser Leben verändern oder sogar eine Gefahr für uns darstellen könnte. Angst ist dabei hochgradig irrational, an Beispielen wie Spinnen- oder Flugangst kann man das sehen. Neurowissenschaftler nehmen heute im Übrigen an, dass viele unserer Handlungen und Gefühle mit unserem kommunikativen Gedächtnis zusammenhängen, von dem unsere Wahrnehmung auf eine Weise beeinflusst ist, die wir uns nicht erklären können. Vielleicht eine Art kollektive Erfahrung, man weiß es nicht. Wenn ich also “Angst” oben zu den reinen Abstrakta gezählt habe, habe ich einen Fehler gemacht. Wenn man einräumt, dass es sich bei “Angst” zunächst um etwas Körperliches handelt, dessen Umsetzung und Bearbeitung im Kopf erst zu einem Abstraktum führt, ist die Ableitung von “Liebe” schlicht falsch.
Also, neu: Die Gedanken und Reflexionen, die aus der Angst resultieren, lassen sich oft weiter decodieren auf vielleicht zwei, vermutlich aber mehr Basisreaktionen: Einen Teil dieser Reaktionen verknüpfe ich direkt mit der Liebe. Wenn ich jemanden liebe, habe ich Angst, ihn zu verlieren. Wenn ich mich in meinem Leben gut eingerichtet habe, habe ich Angst vor Veränderung – weil ich Aspekte meines Lebens liebe, die sich dann dieser Veränderung unterwerfen müssten. Wird es so deutlicher?
Meine kleine, weinlastige Emo-Ausführungen zu den Facetten von Liebe hat hier natürlich stark verallgemeinert. Das ist sicher in vieler Hinsicht so nicht haltbar – auch Steffens Einwurf kann man entnehmen, dass ich bestimmte Extrema überhaupt nicht im Blick hatte. Ich finde nur: Es ist ein tröstlicher und auch sehr schöner Gedanke, dass wir oft, auch wenn wir überhaupt nicht daran denken, eigentlich “love-driven”, also von Liebe gesteuert werden. Selbst in Situationen, die doch auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Liebe zu tun haben.
Danke für Eure kritischen Anmerkungen!
marco
Danke!!! Das freut mich jetzt ganz arg, dass dir mein Text gefällt. 🙂 Vielen Dank auch für das Posten. Irgendwie voll das Geschenk!
Wieder zum Thema. Liebe hat viele verschiedene Farben und unterschiedliche Facetten. Die Literatur schreibt sich schon seit hunderten von Jahren die Finger wund, um all die Vielfalt und Komplexität einzufangen. Deswegen ist es aus meiner Sicht nicht richtig, den Ursprung all dessen entweder ausschließend auf Kopf oder Körper zu reduzieren. Seele, Körper, Geist, alles greift wie ineinander, wie Zahnräder. Genauso verhält es sich mit der Angst. Es gibt innere und äußere Ängste. Es gibt unterbewusste und bewusste Ängste. Es gibt Urängste und erlernte Ängste. Es ist weder irrational noch rational. Es ist wie es ist.
Natürlich beeinflussen sich diese Gefühle gegenseitig und resultieren manchmal aus dem jeweilig anderen. Ich liebe einen Menschen und habe Angst ihn zu verlieren, ist ein gutes Beispiel. Soweit alles richtig. Und doch stehen beide Gefühle auch für sich allein (zu so später Stunde fällt mir jetzt grad kein passendes Beispiel ein). Ich kann deine Argumentation in vielen Teilen mitgehen, aber nicht ganz. Angst vor Hunden. Angst vor einer Prüfung. Angst vor Verletzung. Die Brücke zur Liebe ist hier einfach zu weit.
In einer Sache gebe ich aber dir Recht. Wir sind oft love-driven. Aber eben genauso oft angstgetrieben.
Letztlich habe ich das alles natürlich nicht in letzter Konsequenz zu Ende gedacht, muss ich zugeben. Aber dieses Muster von Liebe und Angst hat mir bisher immer ganz wunderbar die Verzwirbelungen des Lebens begreiflich, nachvollziehbar und verständlich gemacht.
Abschließend, noch mal zurück zum Anfang, du wohnst ja quasi um die Ecke. Hier in der Region gibt es nicht sehr viele Blogger. In Heidelberg sieht es noch besser aus als in Mannheim. Ist doch irgendwie traurig, wenn jeder für sich still und leise vor sich herschreibt und keiner weiß vom anderen. Deswegen war es jetzt mal höchste Eisenbahn, Hallo zu sagen. 🙂
junebug
Darüber werde ich in jedem Fall weiter nachdenken, danke! Nur ganz kurz: Es stimmt leider, allzu viele Blogger sind wir nicht in der Region, aber sowohl in Heidelberg als auch in Karlsruhe (mit den Karlsruher Iron Bloggern) treffen wir uns hin und wieder. Wenn Du Lust dazu hättest, leite ich Dir das nächste “Twabendessen” hier in HD weiter. Dann können wir auch mal in RL Hallo sagen 🙂
Valentin von chillr.de ist auch dabei.
Jan
Ja, beharre du nur 🙂
Ich würde die intuitive Reaktion auf eine Gefahr oder Bedrohung nicht als Angst bezeichnen, zumindest nicht in dem Sinne, wie wir sie hier erörtern. Dass ist eher Stress. Ein plötzliches, bedrohliches Ereignis muss abgewendet werden. Bevor du dir jedoch Gedanken darüber machen kannst, was alles passieren könnte, reagierst du schon darauf.
Ok, Ängste sind irrational und da steckt schon im Wort drin, dass der Verstand eher nicht beteiligt ist. Ich würde Ängste aber so einschätzen, dass sie auch ohne das tatsächliche Ereignis, also ohne akute Gefahr vorhanden sind. Es braucht Gedanken, Erinnerungen, Erfahrungen, um Ängste zu entwickeln. All das findet im Kopf statt. Ängste beziehen sich auf eine Zukunft, die nicht zu unseren Gunsten verläuft.
Aus Liebe resultiert nicht die Angst das Geliebte zu verlieren. Es braucht zur Erklärung vielleicht nicht unbedingt Kalenderweisheiten wie “Nur bedingungslose Liebe ist echte Liebe” oder “Was du liebst, lass los”. Die Liebe ist ein Gefühl des Moments. Sie kommt meist plötzlich, sie geht meist plötzlich. Die Angst entsteht bei der Überlegung, den Gedanken daran wie es wäre, wenn sie weg ist und die Angst wird umso größer, wenn wir die Erfahrung der schwindenden Liebe einmal gemacht haben, aber sie ist nicht zwangsläufig da, wenn wir Liebe erstmalig erleben.
Mir wird deutlich, was du ausdrücken möchtest, aber ich stimme nicht zu 😀
Also ja, wir sind von Liebe angetrieben und würden vielmehr machen und wagen, wenn wir dieser Liebe folgten. Aber sie bringt nicht zwangsläufig Angst mit sich.
marco
Das würde mich freuen! Danke.
Hab ein schönes Wochenende.