Gegen den Hass ist ein Buch, das unbedingt im „Slow Reading“ gelesen werden sollte. Carolin Emcke beschreibt in ihrer Untersuchung, welche Mechanismen hinter dem Hass stecken, woher er kommt, und wie ihm begegnet werden kann. Ihre Ausgangsbeobachtung:
„[…] Gewalt ist nicht einfach da. Sie wird vorbereitet. In welche Richtung sich Hass und Gewalt entladen, gegen wen sie sich richten, welche Schwellen und Hemmnisse vorher abgebaut werden müssen, all das ist nicht zufällig, […] sondern das wird kanalisiert.“ (19)
Verstehen wir die Mechanismen des Hasses, so Emcke, sehen wir auch, wo Ereignisse anders hätten verlaufen können. Und an welchen Punkten wir uns selbst gegen die entstehende Gewalt hätten wenden können. Im prominentesten Beispiel ihrer Untersuchung beschreibt die Autorin die Ereignisse in Clausnitz im Jahr 2015. Ein Bus voller Geflüchteter wurde von wütenden Bewohnern des Ortes vor der noch nicht bezogenen Unterkunft gestoppt. Die Bewohner bedrängten den Bus und beschimpften die Menschen. Die begleitende Polizei nahm die Proteste eher teilnahmslos hin. Carolin Emcke analysiert die youtube-Videos zu dem Ereignis, und fragt sich, was die Menschen vor dem Bus in diesen Momenten sehen: „Was sehen sie nur? Was sehen sie anders als ich?“
Der Blick der Menschen um den Bus herum richtet sich auf die Insassen im Bus. Und doch scheinen sie keine Individuen wahrzunehmen. Ihre Gefühle, ihre Angst und ihre Not sind für die Menschen vor dem Bus nicht sichtbar. Dafür aber etwas anderes:
„Die Geflüchteten im Bus werden einerseits als individuelle Personen unsichtbar gemacht. Sie werden nicht gesehen als Teil eines universalen Wir.
Sie werden negiert als menschliche Wesen mit einer besonderen Geschichte, besonderen Erfahrungen oder Eigenschaften. Und zugleich werden sie sichtbar gemacht oder konstruiert als Andere, als „Nicht-Wir“. Auf sie werden Eigenschaften projiziert, die sie als unheimliches, abstoßendes, gefährliches Kollektiv formen und markieren.“ (48)
Monstrosität und Unsichtbarkeit, zitiert Carolin Emcke Elaine Scarry, sind zwei Unterarten dieses konstruierten „Anderen“. Die Gefahr, die beschworen wird, ist so groß bzw. wird so stark verallgemeinert, dass der Schutz der Menschen vor dem vorgestellten „Anderen“ unerlässlich wird. Angst vor der Gefahr schlägt um in Hass, Hass führt zur Blindheit für die Menschlichkeit des Gegenübers:
„In dieser Szene von Clausnitz wird gehasst, und im Hass muss das Objekt des Hasses als existentiell wichtig und monströs gedacht werden. Das setzt eine eigenwillige Umkehrung der tatsächlichen Macht-Konstellation voraus. Auch wenn die, die da neu ankommen, ganz offensichtlich machtlos sind, […] muss ihnen eine mächtige Gefahr zugeschrieben werden, gegen die sich die vermeintlich Ohnmächtigen zur Wehr setzen.“ (49)
Wie “Gegen den Hass” eine Folge “Black Mirror” erklärt
Drei Wochen nachdem ich die Abschnitte aus Emckes Buch gelesen hatte, schaute ich eine Folge Black Mirror. In der britischen Serie steht die Veränderung der Gesellschaft durch die Technologie im Vordergrund. Sie ist aufrüttelnd und verstörend, weil in jeder Folge die eigenen Werte, die eigene Wahrheit, ja sogar die eigene Vorstellung von Gut und Böse neu verhandelt werden.
In der Folge, um die es hier gehen soll, kämpft eine offenbar an Amnesie leidende Frau um ihr Überleben. Sie kommt in einem Zimmer zu sich und begibt sich auf die Suche nach einem Mädchen, das sie für ihre Tochter hält. Dabei bekommt sie Hilfe von einer Fremden. Um sie herum sind Menschen, die ihre Verwirrtheit, die Auseinandersetzungen und ihre anschließende Flucht mit Smartphones dokumentieren und auf die Frau wie eine Art Zombiearmee wirken müssen. Am Ende der Folge löst sich das Geschehen auf. Die Frau, die um ihr Leben fleht, ist eine verurteilte Straftäterin, die an dem Mord eines Mädchens beteiligt war. Das gesamte Geschehen ist inszeniert, um sie zu quälen. Ihr Gedächtnis setzt wieder ein, sie wird von den Zuschauern beschimpft, und an die Ausgangsstelle des Geschehens zurückgeführt. Hier löschen die Mitarbeitenden des „Justizparks“, wie sich der Ort nennt, ihr Erinnerungsvermögen. Alles geht in die Ausgangsposition zurück, und die Verurteilte erlebt den gesamten Tag erneut. In kurzen Schnitten wird gezeigt, wie verschiedene Familien im Park Eintritt bezahlen, um die fortwährende Bestrafung der Frau mit zu erleben. Sie erhalten eine Unterweisung, in der erläutert wird, dass es sich bei der Straftäterin um eine extrem gefährliche Person handelt, zu der alle Abstand halten müssen. Die letzte Anweisung des Supervisors allerdings lautet: „Haben Sie Spaß!“
Wie in den Ereignissen um Clausnitz wird auch hier gehasst. Sowohl die Zuschauenden als auch die Veranstalter und Darsteller hassen die Verurteilte. Dafür müssen sie die Gefahr, die von ihr ausgeht, überhöhen. Weil die Frau der Beihilfe zum Mord an einem kleinen Mädchen schuldig ist, wird sie in den Augen der Betrachtenden zur unmittelbaren Gefahr für das Leben ihrer eigenen Kinder. Selbst in dem eigentlich geschützten Setting eines pervertierten Erlebnisparks spielt es für die Zuschauenden keine Rolle, dass die Verurteilte weder handeln kann noch weiß, was mit ihr geschieht. Das ist die Umkehrung der Macht-Konstellation. Die Gefahr wird in der Inszenierung greifbar genug gemacht, um sich an den Qualen der Frau zu ergötzen. Was aber, mit Carolin Emcke gefragt, sehen die Zuschauer? Beziehungsweise was sehen sie nicht?
Sie sehen keinen angsterfüllten, gehetzten Menschen, der Nöte aussteht und verletzbar ist. Sie sehen ein Monstrum, das nichts Menschliches an sich hat. Sie alle hetzen und hassen die Frau zu Tode, grausamen Tag für grausamen Tag. Eine düstere Dystopie, die keinerlei Raum für eine Rehabilitation der Verurteilten lässt. Ja, sie lässt nicht einmal Raum für Zweifel an der Angemessenheit der Strafe. Denn die Inszenierung funktioniert nicht, wenn jemand aus den Zuschauerreihen Mitleid empfindet. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist bereits vorher beantwortet worden. Zwar erscheint mir als Zuschauerin zweiter Ebene, als Betrachterin vor dem Bildschirm, das Strafmaß einer fortgesetzten Folter als grauenvoll und unmenschlich. Aber schon ein Blick in die Kommentarspalten bei facebook offenbart mir Forderungen ähnlich drakonischer Strafen für andere. Oft geraten dabei sogar Menschen in den Fokus, die vollkommen unschuldig sind.
„Das Spektakelhafte jagt den Opfern nicht nur Angst ein, sondern es führt sie einem Publikum vor, das sie zum Objekt mit Unterhaltungswert degradiert“ (55),
schreibt Carolin Emcke und bezieht sich auf die Lust am Zuschauen, auf das Berauschen am kollektiven Hass und am Leid anderer. Viele der Betrachtenden, ob in Clausnitz, in der Fiktion von Black Mirror oder sogar in den Kommentarspalten, sitzen dabei der Annahme auf, Zuschauen sei eine Nicht-Handlung. Aber die Inszenierung des schrecklichen Geschehens gelingt nur durch die stillen Beobachter, die es umgeben, durch die „klandestine Zustimmung“ (77) zum Ganzen. Anders ausgedrückt:
„Überall dort, wo die, die nicht der Norm entsprechen, zu Boden gerempelt werden, überall dort, wo niemand ihnen wieder aufhilft, wo sich niemand entschuldigt, überall dort, wo die, die etwas abweichen, zu etwas Monströsem gemacht werden, da entsteht Komplizenschaft zum Hass“. (77)
Ganz absichtlich „weicht“ die Verurteilte in Black Mirror nicht nur „etwas“ ab, sondern erheblich. Sie ist eine Straftäterin, ihr Vergehen ist Beihilfe zum Mord eines Mädchens. Die implizite Frage des Zuschauers 2. Ebene, ob die Tat das Vorgehen rechtfertigt, ist eine provozierte. Wir alle sollen entscheiden, wo für uns die individuelle Grenze zur Legitimation von Hass und Gewalt verläuft. Und an welchem Punkt wir vom dokumentierenden oder stillen Zuschauer in die aktive Rolle wechseln. Genauer gesagt: Wann wir mit Hannah Arendt sagen: „Nein. Da mache ich nicht mit“. Das Problem ist: Einmal irgendwo gezogen, kann diese individuelle Grenze jederzeit nach hinten verschoben werden. Stück für Stück wird so immer mehr Gewalt gerechtfertigt.
Das Motiv aus Black Mirror, dieser moderne Circus Maximus ist uns vertraut, sowohl in der Popkultur, als auch in der Realität. Und so schreibt auch Carolin Emcke: „Das Spektakel einer Meute hat Tradition: die demonstrative, öffentliche Demütigung von Marginalisierten, das Vorführen der eigenen Macht in einer Arena, in der wehrlose Menschen gehetzt oder gelyncht werden, in der ihre Häuser und ihre Geschäfte beschädigt und zerstört werden, das gehört zu alten, überlieferten Techniken.“ (55) Auch Running Man oder die Tribute von Panem spielen mit der Lust der Zuschauer am Schrecklichen, und in den Tributen handelt es sich wie auch in Clausnitz um unschuldige Menschen – der angebliche „Fehler“ der Tribute wurde Generationen vorher begangen, während der „Fehler“ der Geflüchteten im Bus lediglich in ihrer Zugehörigkeit zu einem „Anderen“ besteht.
Black Mirror dient hier buchstäblich als düsterer Spiegel: Weil niemand mehr das Leid sieht, weil alle blind geworden sind für die Angst der Menschen in ihrem Blickfeld, wird eine solche Überhöhung der Gefahr legitim, erscheinen Bestrafungen, Beschimpfungen und „Weg, Weg!“-Rufe der Umstehenden wie in Clausnitz plötzlich angemessen und konsequent. Auf diese Weise machen wir alle Hass und Gewalt erst möglich.
(Zitate aus Emcke, Carolin: Gegen den Hass, Frankfurt/Main 2016.)
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