„Die Medien bersten vor lauter Brandbeiträgen zur Bildungssituation in Deutschland“ Pia Ziefle
Dies ist eine dieser Brandreden.
Im Juli hatten wir Post. Die Hector Kinderakademie in Heidelberg schrieb uns, dass unsere achtjährige Tochter von ihrer Klassenlehrerin als „intellektuell besonders begabt“ gemeldet worden sei. Die Akademie fördert über Stiftungsgelder Kinder im Grundschulalter mit einem Kursangebot zu Naturwissenschaften, Sprachen, Musik und Bildender Kunst. Die Aufnahme in die Akademie wird an das Bestehen eines Intelligenztests geknüpft.
Wir besprachen mit unserer Tochter die Teilnahme an einem solchen Test und fragten sie, was sie davon hielte. Sie dachte drei Tage darüber nach und sagte, sie wolle es versuchen.
Nach der Anmeldung unserer Tochter erging an uns das zweite Schreiben. Daraus zitiert:
„Terminverschiebungen sind aus organisatorischen Gründen nur in Ausnahmefällen möglich.
Bitte stellen Sie sicher, dass Ihr Kind rechtzeitig […] erscheint. Bitte notieren Sie sich diesen Termin, es erfolgt keine weitere Erinnerung!“
Der Ton des Schreibens regte mich, die ich ohnehin aus einer zunächst nur sehr diffusen Abneigung heraus widerwillig zugestimmt hatte, auf. Dann begann ich, zu hinterfragen, warum ich eigentlich mein Einverständnis gegeben hatte. Anders als viele Menschen halte ich nämlich einen Intelligenztest weder für aussagekräftig noch für psychologisch unbedenklich. Aber dieses tolle Zusatzangebot neben der Schule! Botanik-Kurs, Zoobesuche, Technik-Unterricht, Sprachen. Klingt doch super, oder?
Nicht zwingend, denn unser Kind geht auf eine verlässliche Ganztagsschule. Wir sind mit dieser Schulform überaus zufrieden, denn den Kindern wird während der Unterrichtszeit sehr viel Freiraum ermöglicht. Alle Grundschüler gehen nach ihrem eigenen Arbeitstempo vor. Was nur geht, weil alle wirklich viel Zeit in der Schule verbringen. Die etwas leistungsstärkeren haben ein wenig mehr Zeit zum Spielen oder helfen den anderen.
Nach ihrem Unterricht hat unsere Tochter den heute üblichen vollgepackten Stundenplan. Dienstags schwimmt sie beim DLRG, Mittwochs hat sie Klavier, Donnerstags tanzt sie in einem Tanzsportverein. Das alles war nie mein Wunsch, hat sich aber so ergeben. Sie tut diese Dinge gern, sie geht gerne bis vier Uhr nachmittags in die Schule, und in den übrigen Zeiten versuchen wir, sie möglichst ungeplant einfach mit ihren Freundinnen zusammen sein zu lassen, ihr Freiräume zum Lesen und Langweilen zu geben – viel ist da ja eh nicht mehr übrig.
Dazu noch die Frühförderung? Puh. Ich dachte bereits zu diesem Zeitpunkt, ich hätte nicht zustimmen sollen. Darum begann ich, ein wenig genauer hinzuschauen, rein aus Interesse.
Hector Kinder Akademie Heidelberg, Verfahren I:
Jedes Jahr empfehlen Grundschullehrerinnen Kinder für die Aufnahmeprüfung an der Kinderakademie, die ihnen als besonders begabt auffallen. Es handelt sich hier bekanntermaßen um überwiegend weibliches Personal, das – soweit sind mittlerweile etliche Studien – auch ihr pädagogisches Programm eher auf die meist ruhigeren Mädchen ausrichtet. Leider machen weder die Grundschulen noch die Kinderakademie transparent, welche Kinder empfohlen werden. Die Beurteilung der Grundschulkinder richtet sich – auch dies ist kein neuer Fakt – nach der Gaußschen Normalverteilung:
„Für Paul und Franziska heißt das: Ihre Noten hängen nicht nur davon ab, was sie selber können, sondern davon, was sie im Vergleich zu den anderen SchülerInnen können. […] Normalerweise passen Lehrerinnen und Lehrer ihre Benotung ganz selbstverständlich den Leistungen der SchülerInnen an und stellen so die gewünschte Notenverteilung her.“
Die Basisgruppe Gesellschaftskritik Salzburg kommt in ihrem Artikel zu dem Schluss, dass sowohl Versagen als auch Leistung vom System produziert werden. Wenn also jedeR Lehrer_in pro Schuljahr zwei Schüler_innen empfiehlt, heißt das zunächst lediglich, dass sie sie im Vergleich zu anderen Kindern als leistungsstärker auffasst. Es ist ein logischer Schluss, dass in starken Klassen damit immer auch Kinder vergessen werden. Aber weiter:
Was ist “intellektuell besonders begabt” für das Personal unserer Grundschulen? Es ist zunächst davon auszugehen, dass es sich hierbei in aller Regel um eher systemkonforme Kinder handelt, die mit der bereits früh spürbaren Hierarchie der Fächer zurechtkommen, einigermaßen still sitzen können und sich durch Konzentration, Geschwindigkeit und Richtigkeit der gelösten Aufgaben auszeichnen. Ein solches Verhalten kann natürlich mitunter ein Zeichen für eine Hochbegabung sein. Viel öfter ist es das aber nicht. Dagegen sind häufig diejenigen Kinder hochbegabt, die bereits früh durch ein Nicht-Zurechtkommen mit dem System auffallen. Die sich langweilen, die Langeweile aber nicht verbalisieren können. Und die oft viel später im Rahmen medizinischer Untersuchungen auf Hochbegabung getestet werden, weil sich niemand das „pathologische Verhalten“ des Kindes erklären kann.
Ich bespreche mein Zwischenergebnis mit meinem Mann und teile ihm meine größer werdenden Bauchschmerzen mit.
Aber die tollen Angebote! sagt er. Die frühe Förderung! Und denk auch mal an die Kinder, die zuhause nicht so gefördert werden können!
Ja, wie verhält es sich mit denen?
Ein Jammer, das mit der mangelnden Transparenz. So konnte ich nur mal schüchtern im Umfeld fragen, und das Ergebnis lässt sich schlecht generalisieren. Soviel ich nun weiß, wurden aus unserer Grundschule vor allem Kinder aus ohnehin privilegierten, oft akademischen Familien, empfohlen. Dies scheint einen einfachen Hintergrund zu haben: Erfahrungswerte. Familien mit Migrationshintergrund bringen oft eine Sprachbarriere mit. Dann muss man den Eltern der betreffenden Kinder erklären, was es mit dem Test auf sich hat. Schreiben übersetzen. Termine telefonisch vereinbaren oder verschieben. Dolmetscher mitschicken. Das Prozedere ist für die Lehrer_innen anstrengend, das kann ich sogar ganz gut nachvollziehen. Aber was ist mit der Kinderakademie und deren Stiftung? Die könnten sich doch darum kümmern, oder? Ich surfe ein wenig.
Trommelwirbel: Die Hector Kinderakademie, gefördert mit Stiftungsgeldern in einem Umfang von 50.000 Euro (2011) hat NICHT EINE Information für Nicht-Muttersprachler bereit stehen. Nicht mal auf englisch, nicht über Kontaktformular. GAR NICHTS. Das ist doch mal eine Aussage, wie sie über Inklusion denken.
Ich fasse zusammen: Ist das Kind deutsch, aus privilegiertem Elternhaus, systemkonform und zudem in einer nicht allzu leistungsstarken Klasse, hat es gute Chancen, der Kinderakademie vorgeschlagen zu werden. Damit hätten wir die Vorselektion umrissen.
Hector Kinderakademie, Verfahren II:
Nun werden die Kinder zum Intelligenztest gekarrt. Ein Erklärungsschreiben (deutsch) liegt auf dem Tisch, an dem die Angehörigen warten sollen.
Das hoch qualifizierte prüfende Personal schickt die Eltern spätestens zu Beginn des Tests weg. Zu störend der Ehrgeiz der Eltern.
Der Ablauf des Tests selbst, vermutlich ein Binet-Simon-Test, bleibt im Dunkeln. Meine Große erinnert sich an die Frage, wer Amerika entdeckt habe. Sie antwortete: Robin Hood! was ich ziemlich groß fand. Ja, dieser Robin Hood war schon ne coole Sau.
Was aber weisen diese Tests, wie auch immer sie heißen, nach? Was ist Intelligenz?
Zunächst ist davon auszugehen, dass „Intelligenz“ ein Konstrukt ist. „Hochbegabung“ ist per Definition das obere Zehntel dieses Konstrukts, das, wie dieser Artikel zeigt, immer wieder neu an die Gegebenheiten angepasst wird. Auch hier gilt die Gaußsche Normalverteilung. Da „Hochbegabt“ über dem Durchschnitt liegen muss, wird der Durchschnitt angehoben, wenn aufgrund kultureller Entwicklungen das Vorwissen – das derartige Tests sehr stark beeinflusst – sich verändert. Oder auch:
„Intelligenz ist, was Intelligenztests messen, die so konstruiert wurden, dass sie das Bildungsniveau möglichst gut vorhersagen“ (Jens Asendorpf)
Laut diesem Artikel verändert sich der gemessene IQ mit den Jahren und hängt vor allem von diversen bisher nicht genauer zu fassenden soziokulturellen Faktoren ab. Keine feste Größe. Nie. gewesen. Darüber hinaus ist, analog zur Schulbildung, festzuhalten, dass Kinder mit Migrationshintergrund zu einem großen Prozentsatz bei einem IQ-Test schlechter abschneiden als Kinder aus deutschen Familien. Was mit Sicherheit auch damit zusammenhängt, dass das Lösen der Aufgaben zu einem deutlichen Teil mit dem (muttersprachlichen) Verständnis der Sprache einhergeht. Hinzu kommt die momentan gültige Grenze: 119 ist normal begabt, ab 120 werden Kinder in die Akademie aufgenommen. Aha.
Der umfassende Artikel verrät auch etwas über den Sinn solcher Tests: In der medizinischen Forschung ist es nämlich, allem voran in der Beschäftigung mit Demenz, sehr sinnvoll, intellektuelle Fähigkeiten zu messen. Aber ein über eine Aufnahme entscheidender Test bei Kindern? Ein bisschen viel Absolutismus in einem offenbar so variablen Feld. Wir erfahren durch die Kinderakademie, dass diese Tests etwas über das Potential unserer Tochter, Wissen zu erwerben, aussagen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die Frage nach dem Entdecker Amerikas verweisen. Und frage mich, nach genau welcher Logik die korrekte Antwort auf diese Frage bei der Ermittlung ihres Potentials geholfen hätte.
Erst nach dem strittigen Nachweis dieser „Hochbegabung“ steht einem Kind der Besuch der Veranstaltungen offen. Dass es auch anders geht, beweist die Akademie mit ihrem Programm in Laichingen. Die Südwestpresse spricht hier von „besonders motivierten und begabten Schülern“, deren Lehrer_innen sie direkt für einzelne Kurse der Akademie anmelden können. Dabei sei ein Kriterium für das Anmelden, “dass das Kind über ein vergleichbares Thema im Unterricht schon viel wisse und besonders interessiert nachfrage”. Kein Intelligenztest vonnöten. Dennoch machten sich die Amtsträger Sorgen:
„Die Stadträte […] äußerten Bedenken, denn die Kinder sollten nicht schon in den Grundschulen in mehr oder weniger begabte eingeteilt werden. Sie hoffen außerdem, dass die Eltern nicht Druck ausüben, um ihren Kindern die Teilnahme an den Kursen zu ermöglichen.“
Sehr gut! Leider ungehört. Aber sehr gut.
Zwischenstand: 2. Selektion abgeschlossen. Von den mehrheitlich weißen, privilegierten, systemkonformen Kindern aus normalverteilten Klassen bleibt die “Creme de la Creme”. Alle anderen erhalten eine Absage. Die vielen Stiftungsgelder gehen ironischerweise damit vor allem an Kinder, die ihr Potential auch ohne weitere Förderung entwickelt hätten, bzw. die immerhin die Chance dazu gehabt hätten. Kinder aus den so genannten bildungsfernen Haushalten gucken in die Röhre.
Wenn ich klug wäre, würde ich diesen Post zu einem einigermaßen brauchbaren Schluss führen und es gut sein lassen. Kann ich aber nicht. Denn unser Bildungssystem hat nicht nur ein paar Schwächen, die an diesem Beispiel besonders deutlich werden. Es ist nicht mehr zu retten. Es geht nämlich von falschen Prämissen aus.
Daher: Hector Kinderakademie, Verfahren III:
Die Akademie ist lediglich konsequente Fortsetzung einer Fehlannahme. Bildung bedeutet gemeinhin, unseren Kindern Wissen angedeihen zu lassen, das sie später befähigt, bestimmte, für die Gesellschaft wichtige, Berufe auszuüben. Unser heutiges Bildungssystem beruht zu einem wesentlichen Teil auf den Ausrichtungen des spätindustriellen Zeitalters. Damals nahm man an, dass bestimmte Fähigkeiten später für die Ausübung von gesellschaftsrelevanten Berufen wichtig würden. Es erfolgte die bis heute gültige Priorisierung der Fächer.
Heute ist die Situation eine völlig veränderte. Sprechen wir über die Zukunft, ist uns oftmals nicht einmal klar, ob die nächsten fünf Jahre wie prognostiziert verlaufen, geschweige denn die nächsten 20. Anders gesagt: Wir haben nicht den leisesten Schimmer, wie unsere Zukunft aussieht. Wie genau wollen wir denn unsere Kinder für diese Zukunft ausbilden? Wie können wir uns nur im Entferntesten anmaßen, zu beurteilen, welche Fähigkeiten sie später tatsächlich brauchen werden, und in welcher Hierarchisierung?
Das bedeutet aber in Konsequenz: Wir müssen nicht nur das Bildungssystem überarbeiten, nein. Wir müssen unsere Vorstellungen von Bildung anpassen. „Bildung“ kann in der heutigen Zeit nur heißen, dass wir unsere Kinder und Jugendlichen dazu befähigen, sich in einer hochtechnisierten Welt voller Meinungen und Perspektiven zurecht zu finden. Sich Informationen zu beschaffen. Eigene Meinung zu vertreten. Auch „Wissen“ erfährt dieser Tage eine deutliche Uminterpretation. Eine notwendige.
Ich dachte es, als ich meine gerade zwei Monate alte Tochter im Arm hatte. Ich dachte es im Kindergarten, als die Erzieherinnen den Kindern erzählten, eine Katze „sei nicht bunt anzumalen“, ich dachte es bei der Einschulung, bei der Umschulung, bei der gerade über die Bühne gegangenen Einschulung der Mittleren. Mittlerweile ist es nicht nur ein diffuses Gefühl oder ein Verdacht, es ist für mich zu einem Fakt geworden: Unser Schulsystem begünstigt bereits Begünstigste. Es fördert und fordert die weißen „bildungsnahen“ Kinder. Es ignoriert seit Jahrzehnten die überfällige Umstellung auf die Anforderungen moderner Berufe. Es unterstützt das Konstrukt des Klassismus, ohne groß zu hinterfragen, ob es vielleicht anders geht. Es unterdrückt das kreative Potential und das individuelle Talent von Kindern. Ich mache den einzelnen Agierenden keinen Vorwurf. Mein Vorwurf gilt dem Großen Ganzen.
Ein kurzer Exkurs zu den Kindern, die genommen werden. Haben wir uns je gefragt, welches Bild wir den Kindern vermitteln? Wir stecken sie bereits im Grundschulalter in Gruppen, die sich (vor allem später) ausschließlich über ihre Intelligenz definieren. Ich habe meiner Tochter das so erklärt:
„Stell Dir vor, Du hast ganz viele Kugeln im Kopf (meine Mittlere ruft: Oder Planeten!). Fein. Oder Planeten. In jedem dieser Planeten ist etwas ganz Tolles. In dem einen ist der Tanz, in dem anderen das Malen, dann ist da Mathe, Laufen, Englisch, Freundschaft, Liebe … alles. Nun stell Dir vor, Dir wird gesagt, einiges davon sei nicht so wichtig. Das kannst Du vergessen. Anderes ist so wichtig, dass es Dich interessieren soll, wie andere darin sind. Zu Dir gehört aber alles. Jeder Planet!“
Haben wir uns auch nur einmal wach gefragt, was wir den Kindern damit antun? Handelten wir im besten Wissen und Gewissen, gäbe es diesen Text nicht. So wie mein Vater mir im Brustton der Überzeugung riet, BWLerin zu werden, weil er dachte, das sei die beste Qualifikation für einen der zukunftsträchtigen Berufe. Ich kann ihm das schlecht vorwerfen, seine Annahmen waren statistisch wahrscheinlich. Aber heute? Die technische Entwicklung steigt exponential an. Viele der heutigen Berufe gab es vor fünf Jahren nicht einmal. In zehn Jahren gibt es die ersten Absolventen der neu erfundenen Ausbildungen für sie. Dann wird es vermutlich die Berufe nicht mehr geben. Und so weiter. Wir sollten die Vorstellung, die wir von „Intelligenz“ und „Bildung“ haben, grundlegend überdenken. Uns fragen, auf was unser Bildungssystem eigentlich ausgerichtet ist. Und unseren Kindern nicht davon abraten, ihre Zeit mit Skateboards und Smartphones zu verbringen, um stattdessen „Was Gescheites, z.B. Physik“ zu lernen. Ein ehrlicher Versuch, von so einengenden, ungesunden und geschlossenen Konzepten wie dem der „Hochbegabung“ wegzukommen, wäre, unseren Kindern zu sagen:
„Wir haben absolut keine Ahnung, was die beste Förderung für Euch sein könnte. Echt nicht. Geht ein bisschen spielen, wird schon irgendwie.“
Dieser Post war so gut wie veröffentlicht, da flattern die vorläufigen Testergebnisse für meine Große ins Haus. Unsere Tochter wurde abgelehnt. Die Enttäuschung (bei ihr) ist groß. Ich hoffe, sie wird irgendwann verstehen können, wieso ich dieses Gefühl nicht teilen kann.
Update, Stand: 13.11.2013:
Der weiter unten kommentierende Michael hat einen Zeit-Artikel von 2011 ans Licht geholt. Es ist ein Brief an eine Fünftklässlerin, der wesentlich eindrucksvoller ist als alles, was ich zu diesem Thema schreiben könnte.
Auf Gedankenunordnung schreibt Nadine etwas über Unbunte Katzen und Sonnen, die nicht lachen dürfen. Ein toller Beitrag mit einem schönen Schlussakkord!
Weiter über Schulthemen nachgedacht hat, wie unten in den Kommentaren versprochen, der König von Haunstetten. Unbedingte Leseempfehlung!
Und in der aktuellen Ausgabe des Neologismus-Magazins ordnet Michael Thies Artikel und unsere Diskussion auch in den politischen Kontext ein.
Update, 01.12.2013:
In diesem Upworthy-Video spricht ein Student über das amerikanische Bildungssystem. Viele Punkte berühren auch die Inhalte dieses Artikels, selbst wenn es natürlich Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Ein großartiges Zitat aus dem Vortrag geht auch auf die scheinbare Messbarkeit von Leistung und Erfolg ein – den leidigen Punkt der Selbstoptimiererei, den ich in einem älteren Post angesprochen habe:
“If everything I learned in College is measurable, I havent learned anything … Ask yourself, havent we gone too far with data?”
Und ein weiterer Nachtrag: Mittlerweile ist das detaillierte Ergebnis über den IQ-Test unserer Tochter per Post gekommen (mit Auswertung der Teilbereiche des Tests). Unsere Tochter ist angeblich im analytisch-logischen Bereich leicht überdurchschnittlich begabt, während sie allerdings den Anforderungen des sprachlichen Teils in keiner Weise genügt hat. Da unsere Große spricht wie ich blogge, haben wir uns über das Ergebnis sehr amüsiert. Und es ihr vorenthalten. 🙂
Update, 02.12.2013:
Gerade hat der König von Haunstetten dieses wundervolle Video noch einmal geteilt. Und jetzt habe ich es dann auch gesehen 🙂 Die spanische Umsetzung meines Schlusses “Geht spielen”. Wunderschön!
Außerdem ist das hier zur Thematik lesenswert. In diesem Spiegel Online-Artikel geht es um einen vom System Benachteiligten, der es trotz der widrigen Umstände zu einem Hochschulabschluss gebracht hat und sich nun gegen die Benachteiligung von Kindern aus finanzschwachen Familien einsetzt.
Update, 18.12.2013:
Hier geht es zu einem lesenswerten Artikel in der Süddeutschen, in dem aktuelle Studienergebnisse diskutiert werden. Und es gibt doch tatsächlich mal eine gute Nachricht! Enjoy!
CoMa_spinnt
Ich kann deinen inneren Zwiespalt in Bezug auf das Konstrukt zur Aufnahme in die Hector-Kinderakademie gut verstehen. Die Aufnahmekriterien in HD, so wie du sie beschreibst, haben mich überrascht. In unserer Gegend (Südbaden) ist der Wortlaut entscheidend anders. Empfehlungen werden für besonders interessierte Kinder ausgesprochen – von einer intellektuellen Begabung ist dabei nicht die Rede. Auch sind weder die Teilnahme noch ein bestimmtes Ergebnis eines Intelligenztests Voraussetzung. Durch die Empfehlung möchte man aber sicherstellen, dass wirklich interessierte und aufgeschlossene Kinder in die Kurse kommen. Ich habe selbst als Dozentin einen Kurs gemacht und fand es schön, dass in meiner Gruppe “was ging”.
Im Gegensatz zu dir kann ich mit dem Konzept von kognitiver Hochintelligenz/Hochbegabung viel anfangen. Auch wenn sie nicht das Maß aller Dinge ist, so ist sie doch recht prägend. Ein Intelligenztest, den du als “psychologisch nicht unbedenklich” bezeichnest, ist nach meinem Dafürhalten ungefährlich. Bedenken kann und sollte man beim Umgang mit seinen Ergebnissen haben! Das ist aber ein anderes Paar Schuhe.
Hochbegabung zeigt ein Potenzial und auch eine Andersartigkeit im Vergleich zur Mehrheit im eigenen Umfeld. Ich finde es richtig und wichtig, darum zu wissen. AUCH wenn es noch weitere, ebenfalls wichtige Dimensionen von Intelligenz gibt. AUCH wenn der IQ einen Menschen nicht vollständig beschreibt. Das Wissen darum vergrößert die Chance einen passenden Lebensentwurf zu wählen. Das ist unbezahlbar.
Im Gegensatz zu dir verstehe ich die Angebote von Hector (oder ähnlichen Einrichtungen) gar nicht so sehr als “Frühförderung” im Sinne von “pushen” oder einer Auswahl besonders “wichtiger” Inhalte. Ich verstehe sie als eine kleine Portion “artgerechte Haltung” für interessierte, wissbegierige und schaffensdurstige Kinder. Diese artgerechte Haltung fehlt ihnen nämlich in unserem Bildungssystem. Und zwar dringend.
Es geht überhaupt nicht darum, Hochbegabte zu frühreifen Spezialisten im Gebiet XY heran zu dressieren, sondern darum, dass sie vielleicht EINMAL PRO WOCHE so lernen und arbeiten können, wie es ihnen selbst gemäß ist. Während sie sich an den restlichen Wochentagen in sozialer Anpassung üben, die ihnen angeblich ja so schwer fällt. Das sollte man ihnen doch gönnen.
Martin Ingenhoven (@iPhel74)
Liebe Juna, liebe CoMa_spinnt,
als jemand, der von unserem Bildungssystem als Lehrer und Vater einer dreijährigen Tochter doppelt betroffen ist, möchte ich gern meinen Senf dazu geben.
Ich erlaube mir, den Absatz, der mein Lehrer- und Vatersein bis jetzt am besten umreist kurz noch einmal wieder zu geben:
„Wir haben absolut keine Ahnung, was die beste Förderung für Euch sein könnte. Echt nicht. Geht ein bisschen spielen, wird schon irgendwie.“
Ja, genau, ich habe keine Ahnung! Ich könnte versuchen, meiner Tochter ein möglichst nahes Abbild meiner Kindheitserlebnisse zu verschaffen. Die waren nämlich gar nicht mal so schlecht. Außerdem könnte ich als überzeugter Kindskopf da noch mal alles mitmachen. Cool!
Aber das kann es doch nicht sein? Ich bin ein alter Sack, ein Dinosaurier aus einer Welt von gestern. (Ja, Juna, ich weiß, du hast auf Twitter versucht, mir das auszureden. Vergiss es ;)) Ich habe eine Menge unnützes Zeug gelernt. So Sachen mit Karte und Kompass, braucht man nicht mehr unbedingt. Und ob man heute noch Karl May lesen muss? Ich weiß nicht. Aber zwei Sachen, die ich damals gelernt habe, brauchen unsere Kinder in der jetzigen Welt noch mehr als wir damals: Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit.
Und da bin ich an dem Punkt, wo ich anfange, Coma zu widersprechen. Ich glaube nicht, dass es mir damals geholfen hätte, meinen IQ zu kennen. Im Nachhinein kann ich einige Erlebnisse besser einordnen. Mittlerweile bin ich erwachsen, und weiß mit diesen Testergebnissen umzugehen. Aber meiner Tochter würde ich sie nicht zumuten. Ich bin einfach mal so dreist zu behaupten, dass ich ihre Besonderheiten erkenne. Sollte sie sich tatsächlich irgendwann einmal, warum auch immer, ausgegrenzt fühlen, so hoffe ich, dass unser Verhältnis gut genug ist, dass sie sich Hilfe suchend auch an ihre alten Eltern wendet. (Ich hoffe, sie hat noch sehr viel Zeit bis dahin.)
Vor dem Hintergrund von Junas vorletztem Absatz geht mir bei dem Begriff “artgerechte Haltung” – auch wenn er in Anführungszeichen steht – die Hutschnur sowas von hoch! Ich halte meine Tochter doch nicht. Sie darf sich bei uns entwickeln und ich bin verdammt froh darum, so einen kleinen hellwachen Zwusel zu haben. Und das, was sie zum Überleben braucht, Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit, dabei helfe ich ihr so gut ich kann. Den Rest schafft sie schon alleine. Sie braucht nur ein bisschen spielen zu gehen, dabei lernt sie genug. Und zwar in dem Tempo, wie sie selbst es will.
Nachdenkliche Grüße
Martin
junaimnetz
Hey, Ihr zwei! Danke für Eure Kommentare, die aus zwei verschiedenen Richtungen einen mir – wie Ihr sehen konntet – sehr wichtigen Gegenstand beleuchten. Ich versuche mal, knapp auf einiges einzugehen.
Liebe @CoMa, das offene Konzept, wie Du es schilderst, ist nicht im Fokus meiner Kritik. So, wie die Hector Akademie das woanders handhabt, finde ich nichts per se Schlechtes daran. Halte ich eine solche (offene, von Begriffen wie “intellektuell besonders begabt” unbelastete) Förderung darüber hinaus für nötig? Auch das, allerdings nicht für die Kinder, für die Du sie nötig hältst.
Ich will das mithilfe Deines nächsten Absatzes noch einmal erläutern. Das Konzept der Hochbegabung ist, und da sollten wir uns alle im Klaren sein, erst einmal nur das: Ein Konzept. Im Umgang mit z.B. verhaltensauffälligen Kindern kann es Pädagogen und Fachkräften zu mehr Verständnis im Umgang mit den Kindern verhelfen. Eines meiner Probleme ist dabei, dass ein solches Konzept auf eine Dichotomie ausgelegt ist. Während ich vom (kreativen) Potential reden möchte, mit dem alle Kinder auf die Welt kommen und das in unserem Bildungssystem, wie Ken Robinson sagt, “versaut statt gefördert” wird, macht das Konzept der Hochbegabung eine Skala auf. Neben der Hochbegabung gibt es dann natürlich auch die “Niedrigbegabung”. Eine Umschreibung, bei der sich mir die Nackenhaare aufstellen. Wir haben momentan das gesellschaftliche Problem, dass ein Großteil unserer Kinder entweder hochbegabt ist oder an ADHS erkrankt. Was eigentlich auch hochbegabt ist, man braucht lediglich Ritalin, um die Hochbegabung sozusagen “freizulegen”. Absurd. Du sagst, zwischen einem Testergebnis und dem, was man daraus macht, gibt es einen Unterschied. Ich kann Dir nur bedingt zustimmen. Bei so reflektierten Menschen wie Dir? Ganz, ganz sicher. Bei den Personen, mit denen es unsere Kinder in der Mehrheit zu tun haben? Sicher nicht. Darauf gründet sich auch meine Aussage, ein solcher Test sei psychologisch nicht unbedenklich. Als das Ergebnis kam, hat mich meine Tochter gefragt, ob es bedeute, dass sie dumm sei. Selbst eine Achtjährige begreift also die Dichotomie.
Eine Begabtenförderung kann – ich will ja auch nicht nur motzen – in meinen Augen so aussehen, dass das Personal darin geschult wird, auch Kinder für die Extra-Angebote anzumelden/vorzuschlagen, die ihnen genau NICHT auffallen. Auf Verdacht. Eine Kinderakademie hat in meinen Augen fremdsprachige Inhalte auf ihren Websites zu präsentieren – in Heidelberg mindestens englisch, türkisch und spanisch. Es sollten Kinder eine Möglichkeit zu dieser Förderung bekommen, die in ihrem Elternhaus wegen zuviel Geschwistern, zu viel Arbeit oder zu wenig Geld “untergehen”. Dass unser System diese Familien stark benachteiligt, ist wohl kaum zu bestreiten.
Zur artgerechten Haltung hat Martin schon seine Bauchschmerzen bekundet. Auch ich halte das für problematisch. Die wenigsten “Hochbegabten” haben ein Problem mit sozialer Anpassung, und ob die, die in einer Förderung stecken, soziales Miteinander tatsächlich dort lernen, sei dahingestellt. Ich gönne jedem Kind gerne Angebote, die ihm Spaß machen und die es weiterbringen. Ich möchte aber auch jedem Kind gönnen, nicht viel zu früh mit dem Konzept der Hochbegabung konfrontiert zu werden – einem Erwachsenen kann das helfen. Die These, das Wissen darum würde auch dem Kind helfen, einen passenden Lebensentwurf zu wählen, halte ich für gewagt.
@Martin: Um Deine Kindheit kann man Dich beneiden! Und die “lauter unnützen Sachen”, die Du gelernt hast, haben mich noch einmal in meiner Ansicht bestätigt: Woher wissen wir denn, dass es nicht das ganze unnütze Zeugs ist, worauf sich unsere Kinder später einmal spezialisieren? Und damit vielleicht sogar ganz glücklich einen bestimmten Lebensentwurf verfolgen? Noch ein kleines Beispiel dazu: Ich habe neulich – denn ich bringe mir selbst vorzugsmäßig Schwachsinn bei, den “Cup Song” aus Pitch Perfect geübt. Googelt das mal, ist wirklich sehr witzig. Meine Große kam dazu, schaute sich das Ganze an, nahm einen Plastikbecher und verschwand für ein paar Stunden. Als sie wiederkam, hatte sie den komplizierten Klatschrhythmus drauf. Ein typischer Fall, in dem mein Vater mich gefragt hätte, ob ich gerade ERNSTHAFT Stunden auf diesen Sch… vertan habe. Ich dagegen fand es großartig. Und genau darum geht es mir im Grunde: Jedes Kind hat ein unglaubliches kreatives Potential. Für mich gehört das Konzept der Hochbegabung zu einem “Abtrainiermechanismus”. Das ist, noch einmal Ken Robinson, “rücksichtslos von uns und falsch”.
Nochmal zu @CoMa: Quasi zyklisch wird sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft einmal auf die Ähnlichkeit, dann wieder auf die Andersartigkeit gestürzt. Als würde das eine nicht mit dem anderen einhergehen können. Ich will nicht alle gleichmachen. Im Gegenteil. Ich denke aber, dass bei all der Andersartigkeit, die wir momentan durchaus in den Grundschulen fördern (um sie dann in den weiterführenden Schulen wieder überzubügeln, aber das ist ein anderes Thema), wir gut daran tun, auch die Ähnlichkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Alle Kinder sind von Natur aus wissbegierig und lernfreudig. Alle Kinder saugen bestimmte Inhalte auf wie Schwämme. Anders gesagt: “Doof geboren ist keiner. Doof wird man gemacht.”
Du magst einwenden, wir reden doch gar nicht von “Dummheit”. Mit dem Konzept der “Hochbegabung” tun wir es aber doch. Es ist die Kehrseite, das untere Ende der Skala, das es im Konzept geben MUSS, um das obere Ende zu bestimmen.
Ich finde den Austausch mit Euch wahnsinnig wichtig und würde mich im Übrigen auch über Blogbeiträge von Euch aus Eurer Sicht freuen – die Kommentarfunktion ist ja immer so naja. Und ich kann mich ja bekanntlich auch in meinen Antworten nicht kurzfassen 🙂
leidenschaftlichwidersynnig
Danke für diese klaren Worte und feinen Beitrag.
Mein beruflicher Erfolg und meine Schulkarriere stehen in krassem Gegensatz. Ich bin überzeugt, ich hätte noch viel mehr und besser gelernt, wenn die Schule mich nicht daran gehindert hätte oder wenigstens meine Talente zur Kenntnis genommen hätte. So bin ich schon früh Autodidaktin geworden….auch mangels finanzieller Möglichkeiten.
Schon als Kind ließ ich mich nicht gern demütigen – und habe mich dieser täglichen Quälerei in der Schule im Jugendalter komplett entzogen.
Die Testerei halte ich für Quatsch, es wird eh’ nur der mainstram bedient. Wenn wir genauer hinschauen würden und es um die Entwicklung der Kinder ginge, mehr Individualität zugelassen würde, bräuchten wir das alles nicht.
Auch ich halte die Tests für pychologisch bedenklich.
Mein Teenie ist nun ganz früh von der Schule abgegangen, um endlich so und das zu lernen, was ihm Freude macht.
Ja, ich weiß, formale Abschlüsse sind heilig und ohne kommt man nicht zu Wohlstand ( darum geht es doch eigentlich ..). Um’ s Wissen geht es auf jeden Fall nicht.
Es ist irre, was 2 Monate Freiheit von institutioneller Lernbehinderung bewirken können!
Nach den ersten ” bin ich ein Loser -zweifeln ? ” sehe ich einen jungen Menschen vor mir, der mit Elan und Begeisterung über sich hinaus wächst.
Ich stimme Martin zu : unsere Kinder brauchen vor allem Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit. Beides wird in der Schule nicht gefördert, wenn das Kind nicht “unauffällig” ist.
Und ob formale Wissensbescheinigungen morgen noch das non-plus-ultra sind, wage ich zu bezweifeln.
Herzlich, LW
junaimnetz
Ich danke Dir ganz herzlich für Deine persönliche Schilderung! Und wünsche Dir und dem Teenie genau die Ruhe, Kraft und Selbstsicherheit in dieser wichtigen Entscheidung, die jetzt gerade zwischen den Zeilen klingt – sozusagen als Dauerzustand:) In dem autobiographischen Roman “Unser allerbestes Jahr” nimmt ein Familienvater seinen Sohn aus der Schule und schaut mit ihm Filme. Was zunächst völlig absurd erscheint, wird zu einem Plädoyer für Mut, Geduld und die Annahme der Individualität.
Auch mit dem Ziel des Wohlstands sind wir einer Meinung, auch wenn ich das mal ganz ausgeklammert habe. Und auch da hilft es, zu erkennen, was wir unter Konzepten wie “Leistung, Wohlstand und Erfolg” eigentlich verstehen – und warum. Unsere Vorstellung von “Erfolg” wandelt sich etwa alle dreißig Jahre. Ich finde, das ist ein ziemlicher fun fact 🙂
Für alle Leser dieses Kommentars: leidenschaftlichwidersynnig hat unglaublich scharfsinnig auf ihrem Blog über Inklusion geschrieben. Besuch noch einmal nachdrücklich empfohlen!
leidenschaftlichwidersynnig
Reblogged this on leidenschaftlichwidersynnig and commented:
Ich bin dieses Wochende zu faul zum schreiben.
Ein gelungener Tanzabend nebst ziepen in der LWS am Folgetag …jaja, lacht nur.
Fortbildung und dann, was man Haushalt nennt und was ich ganz besonders liebe. Seufz.
Zeit zum Lesen und kommentieren bleibt aber wenigstens.
juna im netz hat einen wirklich tollen blogpost geschrieben.
Ich geh’ mich dann mal erholen…..
steffenpelz
Reblogged this on Teilzeitpazifismus im Lernmodus and commented:
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leidenschaftlichwidersynnig
Liebe juna, Artikel wie deiner sind unterstützender als du vielleicht vermutest….:-)
junaimnetz
Das freut mich riesig! 😀
steffenpelz
Ich werd nix beim Rebloggen kommentieren, sondern hier, wo sich die Diskussion schon so schön entfaltet hat.
Zuerst zum Inhalt: Ich halte Begabtenförderung für einen Versuch, das Potenzial vom Nachwuchs zu entfalten. Ferner halte ich auch einige aus dieser “Industrie” für tatsächlich begeistert vom Konzept und mit ganzem Herzen bei der Sache und den Kindern, die da gefördert werden sollen.
An der Stelle endet dann allerdings die Riege dessen, was ich Positives entdecken kann.
Pia hat sehr schön beschrieben, wie bereits in der Auswahl eine bewusst/unbewusste Kombination von Kriterien dazu führt, dass muttersprachlich deutsche Kinder von bevorzugt gebildeten Eltern, die dem Kind einen entsprechenden Wortschatz vorleben, bevorzugt werden.
Als nächstes entscheiden tagesformabhängige Tests über die “Eignung” eines Kindes, die Grenze in Punkten ist absolut.
Den Faktor der unterschiedlichen Bewertung durch die Eltern hat Juna verdeutlicht – Reflektion ist nicht jedermanns Ding.
Und was darüber hinaus bei einigen Kindern fehlen dürfte, ist die Freiheit, sich zu entscheiden, ob sie denn diesen Weg gehen wollen, oder ob die Eltern ihnen nur unzureichend (oder nicht mal das) klarmachen, was diese Förderung für sie bedeutet.
Und nun trete ich mal einen Schritt zurück. Wozu dient das denn eigentlich? Sind es tatsächlich die Kinder, die hier gefördert werden sollen, oder ist es die Sicherung von Potenzial für die Wirtschaft? Wann beginnt die Einkategorisierung á la “Was das Kind wohl später machen wird”? Wozu überhaupt?
Lasst den Kindern doch bitte die Freiheit, sich im Rahmen ihres Umfeld zu entwickeln. Gebt ihnen in den Bildungseinrichtungen dieser Welt die Flexibilität, wahlweise mit anderen zu interagieren (dazu gehört spielen ebenso wie stänkern oder auch helfen) oder für sich zu spielen, zeichnen oder was auch immer.
Und, verdammt noch mal, hört auf, “zum Wohle des Kindes” den Nachwuchs in allerlei Einrichtungen oder sonstwohin zu karren, nur um Potenziale “gezielt zu fördern”, sondern lasst sie sich in ihrer Umwelt ihren Platz finden. Die inzwischen selbstverständlich geforderte Mobilität des Menschen ist nichts weiter als ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr die Wirtschaft bereits das Leben der Menschen bestimmt, anstatt dass sie sich im Umfeld der Menschen dynamisch nach deren gelebten Potenzialen richtet.
(Und noch ein Bröckchen zur Polarisierung:) Wenn eines in den letzten 150 Jahren deutlich geworden ist, dann wohl , dass die Optimierung der Welt auf die Bedürfnisse der Wirtschaft die Menschheit als Ganzes nicht sonderlich nach vorn gebracht hat. Sondern eher an den Abgrund von profitmaximierungsorientierter Ressourcenausbeutung und industriell perfektionierter Versklavung.
junaimnetz
Danke für Deinen Kommentar (und natürlich fürs Rebloggen!). Es gibt in der Tat engagierte Menschen in der Nachwuchsförderung, und einige Konzepte überzeugen sogar mich – wie z.B. die “Talentförderung” von Jugendlichen, die aufgrund der finanziellen Verhältnisse ihrer Familien oder fehlender moralischer Unterstützung kein Abitur machen würden/kein Studium begännen, obwohl sie überdurchschnittliche Leistungen in einem bestimmten Fach aufweisen. Eine solche Förderung ist enorm schwierig, zeitaufwändig, kostet jede Menge Geld. Aber sie versucht, einer herrschenden Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft entgegen zu wirken. Diese Modelle setzen etwa bei Neuntklässlern an und richten sich einmal nicht an die ohnehin schon Privilegierten.
Darüber hinaus … tja. Ich kann immer nur betonen, dass es hier um Grundschulkinder geht. Die Sorte, die aktuell auf dem Schulhof das wohl nie vom Vergessen bedrohte Spiel des gegenseitigen Hose-Runterziehens wiederbeleben. Und das doch auch in einem gewissen Rahmen dürfen sollten. 😉
Deinen letzten Absatz möchte ich gerne unterschreiben. Dem ist absolut nichts hinzuzufügen 🙂 Wäre auch sehr schön, über diesen Punkt im Gespräch zu bleiben: Ich teile Deine sehr fundamentale Kritik an Ausrichtung und Ziel des Ganzen. Wenn Du Zeit hast, schau Dir mal den verlinkten Vortrag von Robinson an. Er versucht sich an einer Analogie, wie das Bildungssystem für ein paar die Erde besuchende Außerirdische erscheinen muss – und mutmaßt aus dieser Perspektive, was es wohl erreichen soll.
spendenhandel
Liebe Juna,
wie immer, wenn ich die Zeit finde deine Artikel ganz und gar zu lesen, hat das einen Grund. Dein Artikel spricht mir aus der Seele. Diese Woche hat mich nichts sosehr beschäftigt, wie die Schule. Der Umgang mit den Kindern, der Umgang der Kinder untereinander und die Abgrenzung des sogenannten Bildungsbürgertums von den Kindern mit Migrationshintergrund. Auch ich bin diese Woche mehrfach zu dem Schluss gekommen, dass meine Tochter ohne meine tägliche Hausaufgabenhilfe und Unterstützung auf dem bayerischen Gymnasium verratzt wäre. Schade! Wenn ich nicht soviel zu tun hätte, würde ich eine Elterninitiative zur Hausaufgabenhilfe gründen. Denn was dort geleistet werden muss, obwohl eigentlich im Konzept Ganztag versprochen wurde die Hausaufgaben auf Lernaufgaben zu beschränken, ist wirklich nur mit ordentlicher Vorbildung und Zeit zu leisten. Leider! Auch in Sachen spezielle Förderung machen wir an der Regelschule die Erfahrung, dass die gefördert werden, die sowieso von zu Hause gefördert werden.
Im Übrigen durchforste ich nach deiner Anregung gerade das Internet nach Organisationen, die Förderung für Begabte mit sozial schlecht gestelltem Hintergrund anbieten. Eine solche Organisation möchte ich für meinen Spendentopf. Weißt du was?
Wie immer liebe Grüße
Kirsten
junaimnetz
LIebe Kirsten, danke Dir! Es sollte noch viel mehr so engagierte Menschen wie Dich geben! Ich habe auf Deine Frage hin mal nachgeschaut, ob ich Dir einen Tipp geben kann. Vielleicht findest Du in diesem Beitrag Ansprechpartner für Talentförderung: http://www.ardmediathek.de/das-erste/reportage-dokumentation/die-story-im-ersten-du-schaffst-das?documentId=17375014
Das ist ein Fernsehbeitrag, auf den vor ca. zwei Wochen via twitter aufmerksam gemacht wurde – vielleicht kennst Du ihn daher bereits. Ich denke, solche Menschen wie den Scout in diesem Beitrag kann man vielleicht fragen, was (neudeutsch) “da geht” 🙂
Rainer
Liebe Juna,
ich ziehe meinen Hut, ein erstklassiger Artikel und ich kann Deine Sorgen sehr gut verstehen. Und in Richtung Martin winke ich mal heftig, auch ich habe viel “unnützes Wissen” gelernt, aber auch wenn ich es nicht brauche, so hat es vielleicht doch geholfen mein Gehirn so verdrahten, dass ich nützliches Wissen ebenso gut und schnell lernen kann wie den angeblich unnützen Brei.
Was das Schulsystem angeht, da bin ich ja aus eigener Erfahrung als der “Idiot der nicht mal die Hilfsschule schafft” und dann doch noch Akademiker geworden ist sozusagen ein gebranntes Kind. Darum denke ich auch, dass man als Eltern am besten weiß, was seine Kinder drauf haben, denn die kennt man ja seit der Geburt und weiß wohl, wo ihre Stärken und Schwächen liegen.
Mit meiner Tochter hatte ich auch schon lustige Erfahrungen, denn sie ist definitiv kein “Norm-Kind” sondern (wie es ihre jetztigen Lehrer beschreiben) “bunt”. In der ersten Klasse Grundschule wurde uns von der Lehrerin nahegelegt, sie doch mit Ritalin vollzustopfen damit sich diese “störende Eigenschaft” legt. Als wir klarstellten, dass wir unser Kind nicht unter Drogen setzen kam der Alternativvorschlag “Hochbegabungstest”. Den gab es bei uns im Schulamt und dort ist sie als am oberen Rand des normalen Spektrums “kategorisiert” worden.
Ja, unser Bildungssystem brennt lichterloh und wenn ich sehe, was sie jetzt in der 7. Klasse Gymnasium lernen muss, dann kriege ich teilweise die Krise. Physik fängt nicht wie bei uns damals mit der Definition von Kraft oder Arbeit an, sondern man macht Elektrizität. Ok, ist vielleicht interessanter als die Kraftparallelogramme an der schiefen Ebene zu berechnen, aber irgendwie erscheint es mir als Einstieg in die Physik daneben.
Ich glaube, ich muss auch mal ein wenig über das Bloggen was mich an unserem Bildungssystem nervt. Aber das wird dann wahrscheinlich ein sehr langes Posting mit Fortsetzungen. 🙂
junaimnetz
Oh! Auf jeden Fall, nur zu! ^^Dazu gibt es nun mal leider ungeheuer viel zu sagen, und auch wenn ich wirklich keinem einzelnen Akteur böse nachreden möchte: Die wenigsten Personen versuchen, tatsächlich etwas zu ändern. Das sieht man am deutlichsten an der Ritalin-Diskussion: Kinder auf Ritalin “funktionieren” in der Regel. Eine win-win-Situation für die Beteiligten. Da machen sich wenige Eltern und Lehrerinnen die Mühe, mal genauer hinzuschauen. Ich zweifle gar nicht an der Existenz der Stoffwechselerkrankung. Aber sie wird ganz klar missbraucht, weil sie so schön ins Gesamtbild passt. Ihr seid den unbequemeren Weg gegangen: Herzlichen Glückwunsch! Allein das Wissen darum ist in meinen Augen für die Kinder später zentral. Es zeigt ihnen, dass sie wahr- und angenommen wurden. Das ist viel wichtiger als alles, was sie lernen. Freue mich, bald mehr von Dir zu diesem Thema zu lesen:)
Michael
Wow. Ich möchte mich bei allen an dieser Diskussion Beteiligten und vor allem bei Juna für den tollen Artikel bedanken. Und außerdem bei Martin dafür, dass er mich durch einen (Re)Tweet hierher geführt hat.
Ich bin begeistert von euren differenzierten Ausführungen und will nun auch etwas von meinem Senf dazugeben, wohlwissend, dass es mir wohl eher nicht gelingt ihn so fundiert darzustellen. Das ist auch eigentlich gar nicht notwendig, da ich die hier von der Allgemeinheit vertretene Meinung teile.
Ich möchte nochmal auf einen Teil-Aspekt näher eingehen: Die Übertriebene Förderung der Kinder. Ich musste bei aller eurer Kritik an der Kreativitäts-unterdrückenden Wirkung unseres Bildungssystems an einen Beitrag von Quarks&Co denken, den ich vor einiger Zeit gesehen habe und aufschreckend fand. Die Quarks&Co-Sendung hatte als Grundthema “Erziehung” – sie geht also insbesondere auf die Möglichkeiten (und auch Fehler) der Eltern ein.
Vielleicht vorweg: Ich selbst bin von der Perspektive der Eltern noch weit entfernt. Ich bin gerade noch mitten in eben diesem diskutierten deutschen Bildungssystem (oder je nach Definition auch gerade draußen) und gehöre zu den “mehrheitlich weißen, privilegierten, systemkonformen Kindern aus normalverteilten Klassen”. Naja… Manchmal war ich vielleicht nicht 100%ig systemkonform. Ich wurde auch nie für eine “Kinderakademie” vorgeschlagen, obwohl ich in der ersten Klasse bei einem solchen “Intelligenztest” als “Überdurchschnittlich” (nicht “Hoch-“)”begabt” eingestuft wurde.
Trotz akademischem, “bildungsnahem” Elternhaus wurde ich – meinen Eltern sei Dank – nicht auf die im folgenden Video erwähnte Weise um meine Kindheit beraubt. In Anbetracht meiner aktuellen Situation scheint mir das auch unter Gesichtspunkten der Leistungsgesellschaft keinen Nachteil gebracht zu haben.
Nun zu dem Video:
http://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/quarks_und_co/videofitmachenfuerdieleistungsgesellschaft100_size-L.html?autostart=true
(Der Link springt direkt zum letzten Beitrag der Sendung, weil ich ihn besonders passend finde. Die restliche Sendung ist aber auch sehenswert)
Leider gibt es an unserem Bildungssystem so viel zu beanstanden, dass es unmöglich erscheint, daran auf kurze Sicht etwas zu ändern. Es gibt so viele Aspekte die dabei beachtet werden müssen, so vieles, was aktuell falsch läuft… Nur leider werden diejenigen, die tatsächlich die alltäglichen Probleme sehen – von Katzen, die nicht bunt sein dürfen, bis zu Gymnasialschülern, die unter dem Leistungsdruck nicht standhalten können –, nämlich die Lehrer, Eltern und Schüler, meistens nicht gefragt, wenn die großen Entscheidungen über die Zukunft der Bildung und somit auch die Zukunft unseres Landes getroffen werden.
junaimnetz
Vielen Dank für Deinen netten Kommentar und vor allem für den Link. Ich habe gerade den Beitrag gehört und sowohl Kinder als auch Eltern tun mir leid.
In Deinem letzten Absatz sprichst Du etwas an, über das ich mir nun, da der Blogpost veröffentlicht ist und Ihr mit mir darüber sprecht, viele Gedanken mache. Gibt es eigentlich überhaupt etwas, was wir tun können? Als Eltern, Lehrer, Eltern oder Lehrer-Werdende? Oder überhaupt? Können wir uns ganz konkret (und nicht nur über das Teilen von solchen Erlebnissen) den Rücken stärken? Kirsten erkundigte sich nach den alternativen Förderungsmöglichkeiten für ihren Spendenhandel. Sollte in solche Projekte unsere Energie, vielleicht auch unser privates Geld, fließen? Oder reden wir letztlich doch von first-world-problems? Ich habe keine Antwort.
Das, was Malala neulich bei einem Fernsehauftritt sagte, hat mich tief beeindruckt. Selbst Menschen, die mit ganz anderen Problemen zu kämpfen haben, erkennen das hohe Gut der Bildung, und zwar egal welcher, an. Warum machen wir so ein Fass auf? Meine Bekannte ging mit dem Baby in Frühenglisch-Kurse, weil sich sonst “die Zeitfenster schließen”. Was soll das?
Noch einmal Danke! Die Diskussion mit Euch freut mich riesig!
Anita
Zitat: “Gibt es eigentlich überhaupt etwas, was wir tun können? Als Eltern, Lehrer, Eltern oder Lehrer-Werdende? Oder überhaupt? Können wir uns ganz konkret (und nicht nur über das Teilen von solchen Erlebnissen) den Rücken stärken?”
es ist sehr schwierig, hier etwas ändern zu wollen.
Der Anfang liegt wohl darin, dass man sich in der Elternschaft einbringt, sofern man schon Kinder an Schulen hat, um zumindest ein kleines bisschen Einfluss nehmen zu können.
Aber dazu braucht man immens viel Kraft, weil man sich da eben auch wieder mit den “übermotivierten” Eltern auseinandersetzen muss.
Ich habe zwar für alle Kinder einen IQ-Test machen lassen (müssen!), aber es ist für mich nur insofern nützlich, als das man den Lehrern anders entgegentreten kann. Das “müssen” kam infolge der Autismusdiagnostik, es gehört da zum Handwerkszeug.
Was ich in unserem kaputten Bildungssystem am meisten vermisse, ist die Akzeptanz, dass Kinder Kinder sind.
In NRW ist im Zuge des G8 soviel “entschlackt” worden, dass die Grundlagen in vielen Fächern nur noch angerissen werden. Das Lernen soll irgendwie interessanter sein. Aber ohne Grundlage lässt sich manch Interessantes einfach nicht verstehen.
Oder Grundschule, das Lernen hier schon in die Eigenverantwortung von sechsjährigen gelegt, die mit dieser Verantwortung schlicht nicht umgehen können. Dafür dann den Kindern auch hier wichtige Grundlagen zu spät zur Verfügung zu stellen.
Dann aber gleichzeitig eine Begabtenförderung aufzubauen, ein paralleles Bildungssystem also, was wieder den Kindern nur Zeit “klaut”. Es ist schwer, in Worte zu fassen, wie stark die Elternhäuser beeinflusst werden, ihren Kindern alles zu bieten und dabei den Kindern die Kindheit wegzunehmen. Dann dieses zweite Bildungssystem nicht allen zugänglich zu machen ist fahrlässig!
Für mein Gefühl sind die Schulen “veruniversitätet” (fast alles wird in die Eigenverantwortung der Kinder abgegeben, wer was wissen will muss es sich selbstständig erlesen). Im krassen Gegensatz steht dazu die Kritik der Kultusminister, dass die Universitäten verschult wären.
junaimnetz
@Anita: Stimme Dir vollkommen zu. Dein Ansatz, Dich über die Elternschaft einzubringen, ist sicher ein guter Weg. Manchmal allerdings sind die Eltern nicht die besten Ratgeber, wenn es um die Ausbildung der Kinder geht – denn die Eltern wollen das Beste für ihr Kind, was – so sind wir erzogen worden – nunmal Abitur und Studium heißt. (Warum bloß? Das macht so wenig Sinn in meinen Augen). In HD haben wir eine Diskussion, ob wir nun nach Abschaffung der verpflichtenden Empfehlung für die weiterführende Schule den Eltern diese gerade eingeräumte Entscheidung wieder wegnehmen. Denn nun gehen auch Kinder auf Gymnasien, die eine klare Hauptschulempfehlung erhalten haben, weil die Eltern das so wollen. Du schreibst, Kinder sollten wieder Kinder sein. Das sehe ich auch so. Und Eltern sollten darin geschult werden, ihre Kinder zu unterstützen, auch wenn sie alternative Wege gehen. Aber das scheint höllisch schwer zu sein. Kein Mensch hat mehr einfach Vertrauen in den Nachwuchs …
Danke für Deinen Kommentar, der noch einmal viele Punkte angerissen hat!
Anita
Weißt Du Juna,
ich bin dazu erzogen worden, Respekt vor anderen Menschen zu haben.
Meine Mutter wollte, dass ich selbstständig meinen Lebensunterhalt verdienen kann und glücklich werde. Dazu gehörte zwar eine gute Schulbildung. Aber sie war und ist nicht alles.
Ich bin Mutter von 4 Kindern. 4mal die Chance möglichst viel verkehrt zu machen, denn auch Eltern machen Fehler. Denn sie sind nur Menschen. Aber auch 4mal die Chance, den Kindern beim Erwachsenwerden zu helfen. Sie zu begleiten. Und mehr als begleiten darf ich als Mutter nun mal nicht. Und zu hoffen, dass sie glücklich werden.
Zu den Empfehlungen ………..
nun ja, ich habe von einem Grundschulrektor für meine grundfleißige Tochter mal den Satz gehört, ein Mädchen, dass nur durch Fleiß und harte Arbeit einen gewissen Notenschnitt erarbeitet, dem ergeht es auf dem Gymnasium bestimmt nicht gut.
Mit diesem Satz kann ich heute und wollte ich damals nicht umgehen!
Und meine Große beweist jeden Tag das Gegenteil dessen, was der Rektor damals von sich gab!
Ebenso wenig damit, dass mein Ältester nur aufgrund dessen, dass er ein Asperger Autist ist, nicht auf ein Gymnasium “gehören” würde.
Auch auf ein Gymnasium gehören Kinder, die “anders” sind und nicht dem Mainstream entsprechen.
Aber wenn meine Kinder nun “nur” eine Haupt- oder Realschulempfehlung bekommen hätten, hätte es an meinen Kindern nichts geändert.
Ich habe Bauchschmerzen bei Empfehlungen für Kinder, die sich nach dem Status der Eltern richten. Das richtige Auto, die richtige Kleidung, der richtige Beruf und der richtige Wohnort! *Achtung Zynismus” Dies ist mir leider schon so begegnet!
Wo schon ganz früh, anstatt zielgerichteter Förderung und ein anderes Eingehen auf das jeweilige Kind ein ganz anderes Lernen für das Kind möglich gewesen wäre, die “Keule” rausgeholt wurde und von reiner Förderschule die Rede war. Zu einem Zeitpunkt, wo auch an einer Regelschule viel mehr möglich gewesen wäre!
Es liegt, in meinen Augen, oft an fehlendem Willen oder fehlender Empathie, einem Kind auch anders helfen zu können. Manchmal ist es nur ein einfaches Abweichen von dem, was man mal als Regel aufgestellt hat.
Zu “nur Gymnasium” bringt uns weiter ……….
das ist nicht so! Absolut nicht!
Aber leider sterben viele Berufe aus, wo man mit handwerklichem Geschick oder einfacheren Arbeitsabläufen seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Diese Berufe verkommen leider zu 400€Jobs. Wenn man nun als Eltern diese Entwicklung erkennt, dann möchte man dem natürlich entgegensteuern. Ob das sinnvoll ist, ist erstmal zweitrangig. Leider.
Zukunft meiner Kinder ………..
ich hoffe einfach, dass sie aus den Möglichkeiten die sie derzeit haben, ihren Interessen und ihren Begabungen irgendwann das herausfinden, was sie gerne ein Leben lang gerne machen möchten. Ob nun Automechaniker, Arzt …. Buchhalter oder im Supermarkt ……….. sie müssen jeden morgen raus, ihr Geld verdienen und einigermaßen zufrieden sein. Dass kann ich ihnen nicht abnehmen, dass ist ihr Leben. Ich muss in ihnen nichts verwirklichen, ich habe mein eigenes Leben. Sie dürfen ihres genauso eigenständig leben! 😉
Und ich hoffe, ich habe ihnen gewisse Grundfertigkeiten dazu beibringen können. Eben Respekt und Achtung anderer Menschen, einen aufmerksamen und widerspruchsfähigen Geist und Freundlichkeit sowie Selbstbewusstsein.
Diese Ziele sehe ich manchmal untergraben von diversen Unwägbarkeiten die sich in der Schule ergeben. aber zum Lernen gehören leider auch negative Erfahrungen.
Aber aufgeben, nein, dass liegt mir nicht. Und wenn ich meinen Kindern beibringen möchte, dass man was verändern kann, dann muss ich es auch vorleben. Darum werde ich weiterhin versuchen, mich bei unklaren Verhältnissen für die Kinder (nicht nur meine) einzusetzen. Man findet mich eher selten beim Waffeln backen oder andere “nette” Dinge organisieren, eher in der Diskussion, wie man Verhältnisse verändern kann. Denn auch dies ist Elternschaft und dafür muss man noch nicht mal gewählt sein. 😉
junaimnetz
Boah! Euren Rektor hätte ich für den Spruch über Deine Tochter … WAAA!
Ja, auch in meinen Augen fehlt es oft am Hineinversetzen in die erst kleinen, dann immer größer werdenden, Menschen. Deine Begleitung dieses Weges ist großartig. Mit der Offenheit, die Du ihnen und ihrer Entwicklung an den Tag legst, gibst Du ihnen eine Sicherheit, die unser genormtes System ihnen so nicht geben kann /will.
Schön finde ich, momentan zu sehen, wie einzelne Schulen aus den getretenen Pfaden ausbrechen. Seit letzter Woche liegt ein neues Lernkonzept für die Stufen 5-8 an unserer Schule vor. Es ist so eine Art “Interessengeleitetes Lernen” mit Tutoren bzw. Lernbegleitern für die verschiedenen Bereiche (Technik, Computer, Naturwissenschaften, Sprachen, Kunst, Musik …) Das Kind kann frei wählen. Die Kinder werden offenbar dann so zwischen der 7. und der 8. Klasse je nach Neigungen und Leistungen etwas “vorsortiert” und die Eltern über den angestrebten Schulabschluss beraten. Das Ganze wird die nächsten Jahre als Modell getestet.
Ist das die Lösung? Keine Ahnung, aber ich finde den Mut des Schulleiters und seines Kollegiums vorbildlich. Die Fragen a la “aber die Kinder müssen doch … bestimmte Inhalte … Zentralabi!” der Eltern wischen sie vom Tisch, indem sie sagen, es wisse doch eh keiner so ganz genau, wo die Reise hingehe. Dann könne man ja ebenso gut ein wenig rumprobieren 🙂 (Ja, das ist natürlich SO nur zwischen den Zeilen gesagt worden, aber immerhin!)
Das ist es, was wir brauchen: Mut und Vertrauen in die Kinder!
Danke Dir für Deinen Kommentar, und Deine persönlichen Einblicke.
Anita
Das Projekt, was an Eurer Schule eingerichtet wird hört sich interessant an.
Ich bin mal gespannt, wie es sich über die Jahre hinweg entwickeln wird. Darf ich fragen, ist es eine Gesamtschule?
Denn ansonsten sehe ich durchaus die Probleme, die der Rektor und die Schulversammlung mit dem Schulamt/Regierungsbezirk so bekommen können (über die Jahre). Auch würde mich interessieren, ob sie es als Epochenunterricht anlegen, oder nur freie Kurswahl anbieten.
Wo die “Reise” mit unserem Schulsystem hingeht, im Sinne der Inklusion und der “befohlenen” Lehrerknappheit, kann man leicht erahnen. Für meine Begriffe ist der Weg Selektion und eher abwärts gerichtet. Und zwar für ALLE Schüler!
Ich muss, wenn ich mich zu so einem Thema immer aufpassen, dass man mich nicht zu sehr in die “Behinderten”-Ecke schiebt, weil ich es ja “angeblich” immer nur aus dieser Sicht heraus betrachten würde. Läge ja in der Natur der Sache.
Zum einen bin ich ein Befürworter einer ordentlich gemachten Inklusion! Mit genug Geld, Zeit und vor allem Lehrern mit Rückhalt von ausreichend ausgebildeten Förderlehrern und Sozialtherapeuten! Das gibt der Autismus halt einfach so her.
Zum anderen bin ich aber immer noch “nur” Mutter von Kindern, die ein Recht auf eine gute Schulbildung haben! Egal ob nun nach geltendem Recht be- bzw. eher gehindert oder nicht! Und dazu gehört, dass Schulen sich auch und vor allem als ein Ort des sozialen Lernens darstellen und dies nicht “irgendwohin” deligieren. Innerhalb eines sozialen Lernens kann man DANN auch die rein thematisch angelegten Themen erlernen!
Dafür ist eine IQ-Testung nicht erforderlich.
Dafür ist eine ADS/ADHS/Autismus – Testung nicht erforderlich.
In einem sozialen Klima, wo offen auf die Kinder geschaut wird, ist mehr als heute möglich!