Am 2. Februar startet bei uns der Film Hidden Figures. Er beleuchtet die Rolle der schwarzen Wissenschaftlerinnen Katherine Johnson, Dorothy Vaughan und Mary Jackson, die die NASA-Missionen während des Kalten Krieges maßgeblich unterstützten. Der Film basiert auf einem Sachbuch von Margot Lee Shetterly, und rückt nach über sechzig Jahren vergessene Protagonistinnen in den Vordergrund der Raumfahrtgeschichte. Ein wichtiger Film. Aber nur eine der wenigen Begebenheiten, in denen die Leistung von Frauen unsichtbar gemacht wurde.
Vor 16 Jahren verkündeten die Forschenden des weltweiten Human Genome Projects, das menschliche Genom sei nun komplett entschlüsselt. Den Grundstein für diese Entschlüsselung legten Watson und Crick mit ihrer Entdeckung der Doppelhelix und ihrer Beschreibung der Bausteine der menschlichen DNA. Dafür erhielten die bis dahin eher als chaotisch geltenden Forscher den Nobelpreis. Dabei hatten sie vor allem kombiniert: Sie nahmen Ergebnisse Anderer und fügten alle Erkenntnisse zu einer Theorie zusammen, die schon kurze Zeit später zu den bedeutendsten Entdeckungen der Menschheitsgeschichte zählte.
Watson und Crick wäre das nie möglich gewesen, hätte nicht eine Frau, Rosalind Franklin, Jahre mit dem Fotografieren des menschlichen Genoms zugebracht.
Die Biochemikerin fertigte so genannte „Röntgenbeugungsdiagramme“ an und wertete sie mathematisch aus. So hatte sie die Doppelhelix festgehalten, akribische Aufnahme um akribische Aufnahme.
Rosalind Franklin, Foto: wikipedia
Bei einer Einladung zu Watson und Crick im Jahr vor deren Entdeckung wies sie den jungen Wissenschaftlern nach, dass die bisherige Theorie der beiden unzulänglich war. Unter anderem mithilfe von Franklins Assistenten gelangten Watson und Crick wenig später sowohl an Rosalind Franklins Röntgenaufnahmen, als auch an einen noch nicht veröffentlichten Forschungsbericht. Sie verwendeten alles und präsentierten ihr Modell der Doppelhelix im März 1953. Als die beiden den Nobelpreis erhielten, stritten sie vehement ab, Franklins Forschung gekannt zu haben. Jahre später erst gab Watson in seinen schriftlich festgehaltenen Erinnerungen an diese Zeit zu, ihre Unterlagen gesehen und interpretiert zu haben. Da allerdings war Franklin schon viele Jahre tot. Watson und Crick nahmen ihre Forschung, bedankten sich für den Nobelpreis, und erwähnten Rosalind Franklin in ihrer Dankesrede mit keinem Wort.
Nicht nur Wissenschaftlerinnen, auch kreative Frauen waren häufig entweder unsichtbar oder verdächtig. Im literarischen Betrieb der letzten Jahrhunderte publizierten viele weibliche Autorinnen unter männlichem Pseudonym, zum Beispiel unter dem Namen ihres Mannes. Bis heute wird die maßgebliche Beteiligung von Frauen am literarischen Werk ihrer Ehemänner oder Liebhaber noch oft nachgewiesen.
Als John Fuegi in seiner vor der Jahrtausendwende erschienenen Untersuchung über Bertolt Brecht offen legte, dass auch einer der größten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sich bei den Frauen seines Lebens bediente, reagierten viele mit Fassungslosigkeit. Bereits vorher legten Wissenschaftler offen, dass unter anderem ein großer Teil der Dreigroschenoper das Werk seiner damaligen Geliebten, Elisabeth Hauptmann, war. Fuegi zeigte dann, dass beinahe alle seiner bekannten Werke in Zusammenarbeit mit verschiedenen Frauen entstanden waren – und dass gerade die Frauenfiguren in Brechts späteren Werken einen direkten Aufschluss darüber gaben. Der Literaturwissenschaftler brachte Brechts künstlerisches Schaffen auf die wenig schmeichelhafte Formel „sex for text“.
Besonders an Brechts Vorgehen war dabei lediglich die Offenheit, mit der er seine Beziehungen lebte und die Liebe unterschiedlicher Frauen auch literarisch ausnutzte. Er propagierte die Polygamie und das künstlerische Kollektiv, und nahm sich daher mit einer gewissen Berechtigung und einer großen Selbstverständlichkeit, was die Frauen ihm gaben.
Diese Selbstverständlichkeit aber ist das Problem. Sie legitimiert das Unsichtbarmachen der Leistung der Frauen.
In der Diskussion um diese historischen Beispiele fällt oft der Hinweis auf andere Zeiten und andere Sitten. Und dieser Hinweis stimmt: Das Wahlrecht für Frauen, das eigene Bankkonto, einen Beruf ergreifen ohne die Zustimmung des Mannes … zwischen fünfzig und neunzig Jahre liegt all das erst zurück. Dennoch hat Rosalind Franklin, diese bemerkenswerte Frau, sich eingesetzt für die Anerkennung ihrer Leistung. Aber in den Strukturen der 50er Jahre hatte sie kaum eine Chance. Die schrittweise Anerkennung des Beitrags von Elisabeth Hauptmann dagegen ist vor allem der Recherche verschiedener Literaturwissenschaftler zu verdanken. Und Katherine Johnson und ihre Kolleginnen? Sie waren nicht nur Frauen, sie waren schwarz. Im Amerika der 50er Jahre. Unsichtbarer geht es kaum.
Katherine Johnson 1966. Foto: wikipedia
Bis heute erleben wir, wie die Leistung von Frauen unsichtbar gemacht, geschmälert, geleugnet oder sogar gestohlen wird. Der Ehemann oder Liebhaber vorausgehender Jahrhunderte, der die Werke seiner schreibenden Frau als seine eigenen ausgibt, hat genauso eine moderne Entsprechung wie der Wissenschaftler, der die Leistung einer Kollegin stiehlt. Die Hidden Figures der Gegenwart? Sagen wir einfach, auch heute gibt es genügend Filmmaterial für die nächsten Jahrzehnte.
Vor kurzem stellte eine Bekannte von mir, Simone Burel, in diesem Zusammenhang allerdings eine interessante Frage. In einem feministischen Kontext ist es sogar eine ketzerische. Sie fragte: Was an einer solchen Situation ist heute „selbst gemacht“? Also, wann sind moderne Frauen in der westlichen Welt selbst Schuld an Unsichtbarkeit, an der Abgabe ihrer Leistung oder an einem Mangel an Anerkennung? Die linguistische Unternehmensberaterin arbeitet viel mit Gründerinnen und Freiberuflerinnen. Im letzten Jahr moderierte sie eine Podiumsdiskussion. Verschiedene Unternehmerinnen beantworteten Fragen zu den Unterschieden zwischen weiblichem Unternehmertum und männlichem. Nach ihrer Gründungssituation gefragt, erwähnten drei von vier Frauen, wie viel Unterstützung sie von ihren Ehemännern erhalten hatten. Und zwei von ihnen erklärten, der Mann habe ihnen „sein Geld“ für den Start der Selbstständigkeit gegeben. Problematisch daran: In beiden Fällen hatten die Ehefrauen bisher die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernommen. Dennoch sprachen die beiden erfolgreichen Frauen nicht vom gemeinsamen Kapital, sondern vom Geld des Ehemannes.
Simone erklärte mir im Nachhinein, dass Frauen ihr künstlerisches, wissenschaftliches oder unternehmerisches Schaffen häufig in den Kontext ihrer Beziehungen stellen oder schlicht von „Glück“ sprechen. Sie sagen nicht „Ich habe hart gearbeitet und nun verdient, dort zu stehen, wo ich bin“. Sie sagen „Ich hatte viel Unterstützung und eine große Portion Glück“. Damit allerdings machen sie sich selbst klein und stellen sich hinter Partner und Schicksal. Sie verschwinden mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der manche Männer auch heute noch die Leistung von Frauen als ihre eigene ausgeben. Sie werden zur Hidden Figure.
Manchmal hinterlassen die Umstände den Eindruck, es habe sich in den letzten 70 Jahren nicht allzu viel bewegt. Aber das täuscht, bedenken wir die Millionen Menschen, die gerade weltweit am #WomansMarch teilgenommen haben. Die sich nicht länger in die Unsichtbarkeit drängen lassen wollen. Wir sind heute noch nicht da, wo wir sein wollen, auch in Bezug auf die Anerkennung der künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistung von Frauen. Aber wenn wir die Verantwortung für unsere eigene Leistung wie selbstverständlich abgeben, wenn wir nicht aufstehen und uns holen, was uns zusteht, gelangen wir dort auch niemals hin. Unsere Chancen sind besser als die von Rosalind Franklin. Nutzen wir sie.
Weitere Quellen:
Kevin Ashton: Wie man ein Pferd fliegt, Carl Hanser, München 2016.
John Fuegi: Brecht & Co, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997.
Update:
Eine Kommentatorin auf der Plattform „fischundfleisch“ ergänzte diesen Artikel mit vielen weiteren Beispielen von Frauen in der Wissenschaft. Ich möchte ihren Kommentar hier etwas gekürzt wiedergeben:
Margaretha: „Vor einiger Zeit lernte ich in einer Doku, daß in Großbritannien Frauen zwar Medizin studieren konnten, es aber bis in die 1950er dauerte, bis Frauen sowas wie der “Ärztekammer” beitreten konnten und die Lizenz zur Praxis erhielten. Einige Damen wurden interviewt und erzählten ihre Geschichte.
Bei der BBC gibt es auch eine schwarze Astronomin: Margaret Ebunoluwa “Maggie” Aderin-Pocock, MBE (born 9 March 1968).
https://www.theguardian.com/science/2014/sep/21/maggie-aderin-pocock-interview-bbc-nasa-space
Vera Rubin forschte über dunkle Materie und spiral galaxies, Carolyn Porco war eine Schlüsselfigur bei “Voyager” Missionen.
Nancy Grace Roman arbeitete schon in den 1940ern in Chicago, das ist die Mutter des Hubble Teleskops.
Und Jocelyn Bell Burnell und ihre Arbeit an Pulsaren. Margaret Geller, Kartographie der Milchstraße. Debra Fischer seit den 80ern Exo-Planeten Jäger, Carolyn Shoemaker jagt Kometen. Sandra Faber in Galaxien, Heidi Hammel mit Neptun und Uranus.“
Wenn das keine beeindruckende Aufzählung ist … !
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