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Erfindet Euch neu!

Hier ein Bild des Buchcovers von Michel Serres Erfindet Euch neu

ist der deutsche Titel des schmalen Bändchens Petite Poucette von Michel Serres. Im Untertitel heißt sein 2012 im Original erschienenes Buch Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation.

Michel Serres ist 1930 geboren und bis heute Philosophieprofessor an der Sorbonne. Seine Kommunikationstheorien beeinflussten unter anderem Niklas Luhmann.

Die Liebeserklärung an die vernetzte Generation ist das erste Buch, das ich von ihm lese, vermutlich aber nicht das letzte. Es richtet sich nicht unbedingt an eine akademische Leserschaft, obwohl Michel Serres auch deutliche Kritik am universitären Apparat übt. In einem väterlich-pathetischen Ton berichtet er von den massiven gesellschaftlichen Veränderungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu beobachten waren, und die an vielen Menschen der älteren Generationen scheinbar unbemerkt vorbeigegangen sind:

Ohne daß wir uns dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden. (15)

Diese Neuerfindung des Menschen zieht sich für ihn durch alle Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens.

Er oder sie, die ich Ihnen vorstellen möchte, lebt nicht länger mit Tieren zusammen, wohnt nicht mehr auf derselben Erde, hat nicht mehr den gleichen Weltbezug. […] Er ist Stadtbewohner. […] Und dennoch wird er, umweltbewußt geworden, die Umwelt weniger verschmutzen, wird behutsamer und rücksichtsvoller mit ihr umgehen als wir Erwachsenen, gedankenlos und narzißtisch, wie wir sind.
Schon rein physisch lebt er ein ganz anderes Leben. Und seine Welt ist allein den Zahlen nach eine andere, nachdem die Weltbevölkerung während einer einzigen Lebensspanne sprunghaft von zwei auf sieben Milliarden Menschen angewachsen ist. Er wohnt in einer vollen Welt. (9)

Der medizinische Fortschritt, die langen Friedensphasen des westlichen Europa, die gesellschaftlichen Errungenschaften, die Globalisierung. Alles Veränderungen auch an Körper und Geist der „vernetzten“ Generation, die laut Serres noch kaum jemand in vollem Umfang zur Kenntnis nimmt:

Sie haben nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr den gleichen Lebenswandel. Eine Moral, die dazu paßt, werden sie sich von keinem Erwachsenen einreden lassen.(10)

Sein Band gliedert sich in drei Teile. Im ersten Abschnitt, Die Kleinen Däumlinge, beschreibt er das Selbstverständnis einer Generation, die mit einem nie dagewesenen Zugang zu Informationen lebt, arbeitet und kommuniziert. Däumling und Däumelinchen nennt Serres die Repräsentanten der digital vernetzten Generation, in Anlehnung an die Bedienung von mobile devices mit dem Daumen. Im zweiten Abschnitt, Schule, kritisiert er die Weigerung des gesamten Bildungssystems, den umfassenden Veränderungen der letzten Jahrzehnte Rechnung zu tragen. Der letzte Abschnitt, Gesellschaft, ist ein Lob des Kollektivs, der Menschenstimmen, des Codes – hier beschreibt Michel Serres, wie die Generation von heute etwa 20-30-jährigen die Gesellschaft quasi von unten reformiert. Und welche Chancen in der digitalen Vernetzung noch liegen.

Eine dieser Chancen sieht Serres in der volkommen neuen Bildung von Identität:

Einst und bis vor kurzem noch haben wir von Zugehörigkeiten gelebt: französisch, katholisch, jüdisch, protestantisch, muslimisch, atheistisch, […] Frauen oder Männer, mittellos oder vermögend … Wir gehörten zu Regionen, Religionen und Kulturen, ländlichen oder urbanen, zu Mannschaften und Kommunen, zu einem Geschlecht, einem Dialekt, einer Partei, zum Vaterland. Durch das Reisen und die Bilder, durch das Internet, aber auch durch verheerende Kriege sind diese Zugehörigkeiten fast ausnahmslos zerfallen. Die noch Übriggebliebenen sind in Auflösung begriffen. (17)

Die Kunde von jenem neugeborenen Individuum ist in Wahrheit keine schlechte Nachricht. Wenn ich die Folgen dessen, was alte Nörgler „Egoismus“ nennen, und die Verbrechen, die aufs Konto der Zugehörigkeitslibido gehen oder um ihretwillen begangen wurden – Hunderte Millionen von Toten -, gegeneinander abwäge, dann kann ich diese jungen Leute nur von ganzem Herzen lieben. (18)

Gleichwohl, so Serres, entstand durch die umfassenden Veränderungen eine gesellschaftliche Kluft, die in ihren Ausmaßen noch kaum deutlich ist. Die Auswirkungen vor allem auf den Bereich des Bildungswesens aber sind es:

Am abschüssigen Rand dieser Kluft also stehen die jungen Leute, die wir zu unterrichten gedenken – unter Rahmenbedingungen, die aus einer Zeit stammen, die sie nicht mehr gekannt haben: Gebäude, Pausenhöfe, Klassenzimmer, Hörsäle, Campus, Bibliotheken, Laboratorien und schließlich die Wissensformationen selbst … Rahmenbedingungen, die aus einer Zeit stammen und auf ein Zeitalter zugeschnitten waren, in denen Welt und Menschen waren, was sie nicht mehr sind. (18)

Dieser tiefgreifende Wandel der Lehre wirkt sich allmählich auf den ganzen Raum der Weltgesellschaft und alle ihre überalterten Institutionen aus. Er betrifft keineswegs bloß die  Lehre, sondern auch die Arbeit, die Unternehmen, die Gesundheit, das Recht und die Politik, kurzum: alle unsere Institutionen. Wir spüren, dass wir diesen Wandel dringend brauchen, aber wir sind noch weit davon entfernt, ihn zu vollziehen.
Wahrscheinlich, weil diejenigen, die zögern, diesen Übergang zu vollziehen, schon dem Ruhestand entgegensehen, während sie Reformen einleiten, die sich an längst obsolet gewordenen Modellen orientieren. (21).

Der veränderte Kopf der vernetzten Generation ist einer, der sich der neuen Technologien bedient. Während in den letzten Jahren vermehrt Kritik am häufigen Gebrauch digitaler Medien geübt wurde – in Deutschland war bereits von der Digitalen Demenz die Rede – sieht Serres in der Auslagerung von Wissensinhalten eine Befreiung von Intuition, Kreativität und Spielfreude:

Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochenbewehrten neuronalen Kopf herausgetreten. Die Kognitionsbüchse in unseren Händen enthält und hält in der Tat am Laufen, was wir einst unsere „Vermögen“ nannten. Ein Gedächtnis, tausendmal leistungsfähiger als das unsere, eine von Millionen und Abermillionen Ikonen bevölkerte Einbildungskraft, ja einen Verstand – dienen doch zahllose Programme der Lösung ebenso vieler Probleme, die zu lösen wir von uns aus außerstande wären. Unser Kopf liegt vor uns, da, in der objektivierten Kognitionsbüchse.
Was aber tragen wir nach der Enthauptung noch auf unseren Schultern? Die erneuernde und lebendige Intuition. In die Büchse ausgelagert, entläßt uns die Bildung an die helle Erfindungsfreude. Großartig: Sind wir dazu verdammt, intelligent zu werden? (28)

Für ihn besteht die Anpassung vor allem des Bildungsapparats an die bereits vollzogenen gesellschaftlichen Veränderungen in einem Folgen dieser Verlagerung auf Erfindungsfreude und Intuition:

Die Unordnung dagegen lässt frische Luft herein, wie eine Maschine, die Spiel hat. Das Spiel macht erfinderisch. […] Folgen wir Däumelinchen in ihren Spielen […] Bringen wir die Departementalisierung der Wissenschaften durcheinander, […] schlagen wir die Lehrinhalte in Stücke … (42)

Was hier revolutionär klingt, macht Serres als sowohl absolut notwendige wie auch vollkommen überfällige Reformation eines Systems plausibel, das seine Hoheitsmacht schon vor einiger Zeit an die vernetzte Generation verloren hat. Er bezeichnet diese Entwicklung als das „Ende der Ära des Wissens“. Das entstehende Chaos begrüßt er selbst als eine der größten Chancen der Menschheit, die noch von wenigen tatsächlich erkannt wurde:

Konkret und praktisch veranlagt, nehmen wir unweigerlich an, die Revolutionen fänden im Einflußbereich der harten Dinge statt. Die Werkzeuge, die Hämmer und Sicheln, haben es uns angetan. Ganze Zeitalter unserer Geschichte haben wir nach ihnen benannt: […]
In Wahrheit hat die Erfindung der Schrift und, später, des Buchdrucks unsere Kulturen und Kollektive gründlicher revolutioniert als alle Werkzeuge zusammen. (29, 30)

Das für mich eindrücklichste Lob Michel Serres‘ ist das Lob an die Menschenstimmen. Dabei stellt er die immer weiter zunehmende Kommunikation der Menschen über digitale Netzwerke als Folge des grundlegenden Bedürfnisses nach Austausch dar und bezieht damit deutlich Gegenposition zu vielen Menschen der älteren Generationen, die Online-Kommunikation als nutzloses Geschnatter, subversives Getuschel oder Störgeräusch bis heute belächeln und abwerten. Für mich in diesem durchweg positiven, wunderbar zu lesenden Bändchen die größte Überraschung:

Alle Welt will sprechen, alle Welt kommuniziert mit aller Welt in zahllosen Netzwerken.(56)
… und die virtuellen [Stimmen] der Blogs und Sozialen Netzwerke, deren unbezifferbare Mitgliederzahlen inzwischen Ausmaße erreichen, die denen der Weltbevölkerung nahekommen. Zum ersten Mal in der Geschichte kann man die Stimme aller hören. (55)

Ich empfehle dieses Buch nachdrücklich allen, die sich an deutlichem Pathos nicht stören. Michel Serres’ Begeisterung für die gesellschaftlichen Veränderungen ist in seiner Liebe für die digitale Vernetzung mitreißend. Und ich persönlich glaube, er hat Recht.

Zitate aus: Michel Serres: Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin: Suhrkamp 2013.

  1. Super, danke für den Tipp, dieses Buch ist vollkommen an mir vorübergegangen, obwohl ich absoluter Serres-Leser bin – jaja – man sollte doch nicht NUR bei den ebooks schauen 🙁
    .
    Ich habe sämtliche Serres Bücher aus dem Merve Verlag, Also Hermes I-IV
    http://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&url=search-alias%3Daps&field-keywords=Michel+Serres+Hermes+merve&rh=i%3Aaps%2Ck%3AMichel+Serres+Hermes+merve
    .. blicke gar nicht mehr durch, was daraus inzwischen bei Suhrkamp erschienen ist …
    .. und den Bildband
    Die Legende der Engel
    http://www.heise.de/tp/artikel/6/6015/1.html
    … die ich alle – entsprechenden “Lesehunger” vorausgesetzt auch gern verleihe …
    dazu ein Essay-FIlm
    http://www.uni-weimar.de/projekte/event/studiobauhaus/archives/125
    .
    .. und ein wunderbares Interview-Transkript, das in “Wired” nicht abgedruckt wurde …
    http://harikunzru.com/michel-serres-interview-1995

    Mist diigo ist gerade down, dann reiche ich meine Serres-Links noch nach, denn es gibt, begreiflicherweise sehr viele Texte von und vor allem zu Serres im Netz, mostly englisch, ein paar deutsche und etliche natürlich in hi “mother language” französich …

    Herzliche Grüße von Leser zu Leserin 🙂
    Heiko

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