Es ist fast acht Uhr, das Kind kommt vom Sportverein. Es setzt sich zu mir, wir essen und haben einen dieser Dialoge, die viel zu selten aufgeschrieben werden. Ich versuche, ihn jetzt mal möglichst wortgetreu wiederzugeben:
Wir sprechen über eine Freundin von mir, die wir beide sehr mögen. Wir ahmen ihren Tonfall nach und haben jede Menge Spaß. Dann fragt mich mein Kind: “Beleidigen wir die [Freundin] jetzt damit?”
Ich hole aus. Nein, versuche ich zu sagen. Wir mögen sie gerne und denken voller Liebe an sie und ihre Kinder. Deswegen soll es eigentlich nicht beleidigend sein. Aber:
Ich: “So richtig könnte das jetzt nur [Freundin] beantworten. Menschen sind bei ganz verschiedenen Dingen empfindlich. Oder auch nicht. Es ist eine etwas schwierige Sache, wovon sich jemand beleidigt fühlt – und wovon nicht. Und die Beleidigung liegt immer in der Wahrnehmung des Beleidigten. Ist klar, was ich damit meine?”
Kind: “Nein.”
Ich: “Wenn jemand zu Dir sagt: “Das tut mir weh” oder “Davon fühle ich mich beleidigt”, dann ist es an Dir, zu sagen:” Das habe ich nicht gewollt und es tut mir leid”. Selbst wenn Du denkst, ist doch gar nicht so schlimm. Ein paar Beispiele?”
Kind: “Ja.” (Kind ist bis hierhin eher wortkarg, aber das soll sich gleich ändern.)
Ich: “[Klassenkamerad]s Vater ist im Gefängnis. Wenn Du jetzt etwas sehr Gemeines über Menschen im Gefängnis sagst wie “Ich wünschte, die würden da nie wieder rauskommen”, dann ist das für [Klassenkamerad] sehr schlimm. Einem anderen Menschen ist es aber egal, ob Du was darüber sagst.” (Das Kind denkt an dieser Stelle kurz nach und abstrahiert dann:)
Kind: “Ich weiß was Lustiges! Wir haben ja immer Stuhlkreis. Dann nimmt [Klassenkamerad2] eine Gefühlskarte[1]. Wenn er an der Reihe ist, macht er aber nicht das, was er mit dieser Karte machen soll, sondern sagt z.B. “Da ist ja ein Herz drauf!” Und dann fährt er es auch mit den Fingern nach. Und wir lachen alle! Und ich mache so: (macht einen facepalm).”
(Wir lachen beide. Dann sage ich:)
“Ein gutes Beispiel. Siehst Du, vielleicht fühlt sich der [Klassenkamerad2] beleidigt, wenn Du Dich so über ihn lustig machst. Obwohl es für Euch alle witzig ist!”
Kind: “Ich habe ihn gefragt, ob ihn das verletzt, wenn wir lachen. Er meinte so: “NÖ, wieso?”
Ich: “Das ist gut, weißt Du, mit meinem Bruder hätte ich das nie machen können, das: (Zeige facepalm).”
Kind: “Aber das mache ich auch manchmal bei [kleiner Schwester].”
Ich: “Und auch die findet es nicht lustig. Wie auch mein Bruder. Obwohl er sonst sehr viele Scherze lustig findet, mag er es nicht, wenn er für dumm verkauft wird. [Kleine Schwester] ist da ganz genau so. Sie findet es auch nicht gut, wenn sie für dumm verkauft wird.”
Kind: “Aber ich verkaufe sie doch nicht, wenn sie dumm ist!”
(Ich mache einen Facepalm. Und lache. Sehr laut.)
Kind: “Ich will Dich zum Lachen bringen, das hast Du jetzt schon gemerkt, oder?”
Ich: “Ja, das habe ich schon gemerkt!”
Das, meine Süße. Und noch ein paar andere Sachen. Zum Beispiel, dass man Kindern gar nicht beibringen muss, empathisch gegenüber anderen Menschen zu sein. Man muss sie lediglich darin bestärken. Oder dass es großartig sein kann, das Kind mal nicht ins Bett zu hetzen und stattdessen lieber zu hören, was es so zu sagen hat. Was es bewegt – und was vielleicht nur noch für seine wesentlich beschränkteren Eltern ein Problem zu sein scheint.
Ich glaube, ich befinde mich in einem neuen Lebensabschnitt mit meiner noch-nicht-ganz-Neunjährigen. Zwar können wir von unseren Kindern zu allen Zeiten sehr viel lernen. Aber wenn sie in der Lage sind, Dir argumentativ zu begegnen, ist das noch einmal etwas ganz Neues, anderes.
[1] Anmerkung: Gefühlskarten im Stuhlkreis sind pädagogische Maßnahmen zur Gruppenstärkung. Die Kinder können sich über die Karten mitteilen, was sie gut oder schlecht fanden, was sie fröhlich oder traurig gemacht hat. Ein Herz ist die Aufforderung, jemandem etwas Nettes zu sagen, z.B. “Ich mag, was Du in der Klasse über mich gesagt hast” und ähnliches.
Ehrlichgesagt
Das ist ein sehr schöner Text, Juna. Und ich verstehe genau, was du meinst.
Neulich hatte mein zwölfjähriger Sohn nach dem Aufwachen Bauchschmerzen und ich habe ihm erlaubt, zu Hause zu bleiben. Nachdem ich seine kleine Schwester in den Kindergarten gebracht hatte, habe ich uns ein Tablett mit leckerem Frühstück gemacht und den Vormittag an seinem Bett verbracht. Wir hatten so tolle Gespräche wie lange nicht mehr und ich war so froh, dass ich mich nicht hinter Arbeit verschanzt, sondern mir Zeit für ihn genommen hatte. Je älter die Kinder werden, desto weniger solche Gelegenheiten gibt es. Aber wenn man so eine Gesprächskultur, wie du sie beschreibst, mit ihnen entwickelt und gepflegt hat, kann man immer wieder daran anknüpfen. Das bleibt!
junebug
<3 !
leeloobe
Hallo Juna!
Wie schön sind diese Momente 🙂 Mein Sohn und ich haben die manchmal und ich geniesse sie so sehr! Den Stuhlkreis hat mein Sohn auch in der Schule – Erzählkreis sagen sie dazu. Das ist echt eine tolle Sache 🙂
Glg aus Innsbruck
junebug
Danke Dir! Und alles Liebe zurück!
Tristan Schwennsen
Liebe Juna,
vielen Dank für diesen wunderbaren Post. So recht kann ich es nicht beschreiben, warum ich ihn so schön finde und warum mich Euer Dialog so sehr bewegt hat. Darum nur: Danke 🙂
Herzliche Grüße
Tristan
junebug
Vielen Dank für Deinen lieben Kommentar 🙂
Und: damit bist Du nicht alleine. Ich kann auch nicht ganz genau erklären, was mir an diesem Gespräch so wichtig war. Deshalb habe ich es mit der möglichst wortgetreuen Wiedergabe versucht, denn der meiste Zauber steckte zwischen den Zeilen. Und in dem dazu gehörigen Kinderlächeln, das sich zwar nicht abbilden lässt, das man aber – wie ich hoffe – vor allem aus ihren letzten beiden Sätzen heraushört.
DerBerberich
Hallo,
auch von mir wiedereinmal ein Danköö für den schönen Post!
Du weißt, ich mag keine Kindergeschichten, in denen es nur um Probleme geht, und man Angst bekommt vor eigenem Elterntum, und da ist es einfach schön einen tollen Dialog zu lesen.
(Deshalb mag ich auch so gern papaswort.de…)
Beste Grüße
DD
CoMa
Ja, es ist toll, wenn die Kinder Gelegenheit bekommen, uns Eltern ihre (und damit auch unsere) Welt zu erklären! Es stimmt: oft müssen wir ihnen gar nichts beibringen. Meine Jungs sind ja schon älter. Da findet mehr und mehr Meinungsaustausch statt, wozu natürlich neben gleicher Augenhöhe auch ein vernünftiger Umgang mit “Echt? Find ich nicht.” gehört.
Und dann gibt es diese goldenen Momente, in denen wichtige Dinge gesagt werden und auf den richtigen Boden fallen und mein Kind und ich spüren: “Wir verstehen uns gut.”
Hach! 🙂