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In eigener Sache, Literatur

Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten

Mein Bruder und ich als ganz kleine Kinder auf dem Schoß eines englischen Bobbys, eines Polizisten. Links im Bild die Hand meiner Mutter, die meine Wange streichelt.

Vor über einem Jahr habe ich eines meiner Spoken Word – Gedichte in eine beinahe abendfüllende Serie von Tweets gepackt. Es schien mir damals – wegen eines konkreten Anlasses – irgendwie die perfekte Form für den Text zu sein. Aber eine Twitter-Performance ist eine Twitter-Performance, und der Text ist längst von Guten Morgen-Grüßen, Kaffee- und Familientweets sowie Leseempfehlungen zu wunderbaren Texten anderer Menschen überdeckt worden.

Seit kurzem denke ich darüber nach, was man mit diesem und anderen Texten auf meinem Desktop noch alles anstellen könnte. Als Übergangslösung stelle ich den getwitterten Text hier auf den Blog. Vielleicht vertone ich ihn, vielleicht mache ich ein Video daraus. Oder ich versuche mich an einer Spoken Word Art-Session auf unserem Barcamp in Heidelberg. Who knows.

“Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten” ist so pathetisch wie nur irgendwas. Aber ich stehe auch heute noch hinter diesem Text. Und ich wünsche mir bis heute mehr Zeit. 🙂

Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten
würde ich versuchen, all die Schönheiten zu sehen, die er uns zu bieten hat.
Ich würde versuchen, mehr hinzusehen
um Schönheit auch da zu erkennen,
wo sie niemand sieht, der so wenig Zeit hat
Ein Menschenleben scheint so verdammt wenig Zeit

Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten
würde ich mehr mit meinen Kindern spielen
so lange sie klein sind
und ein paar andere Dinge
auf später verschieben
da ich ja wüsste
dafür wäre noch Zeit

Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten
ich würde viel mehr „tun“
Ich sehe mich in den Bergen
ich sehe mich die Welt bereisen
mit dem Flugzeug. Ich hasse es, zu fliegen
aber wenn ich wüsste, ich hätte noch viel mehr Zeit
würde ich fliegen
ich würde sogar aus einem Flugzeug abspringen
oder Base-Jumping versuchen
Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten
ich wäre so unendlich viel mutiger

Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten
ich würde meine Zeit großzügig verschenken
denen, die nicht mehr sehr viel Zeit haben
ich würde versuchen, ihnen mit meiner Zeit
und mit meinem Zuhören
ihre letzte Zeit schöner zu machen
sie auf positive Weise zu verkürzen
und zu hören, was sie noch zu sagen haben
wenn ich ihnen die Zeit gebe
es mir zu erzählen.

Hätte ich noch mehr Zeit auf diesem Planeten
ich wüsste nicht, wofür ich sie zuerst einsetzen sollte.
ich würde gerne Menschen helfen
und Tieren
der Umwelt
ich möchte etwas erfinden
das das Leben verbessert
ich möchte Menschen Hoffnung geben
ein großartiges Buch schreiben
für andere da sein
Eine Hand ausgestreckt, um sie jemandem zu reichen
die andere Hand schützend um ein Kind gelegt, das Hilfe braucht
ich würde Sprachen lernen
am besten alle
damit ich jedem Menschen auf diesem Planeten
in seiner Muttersprache begegnen kann
weil ich das Herz nur berühre
wenn ich ihre Sprache spreche
ich würde Musik machen, jede Menge Musik,
denn böse Menschen haben keine Lieder
und Lieder sind dafür gemacht, Mauern einzureißen
Das würde ich tun
ich würde Mauern einreißen
ich hätte ein ganzes Heer von Abrissbirnen und Baggern
damit ginge ich auf sie los
die Mauern die uns trennen
und die Schranken in unseren eigenen Köpfen
Dafür braucht es Zeit

Hätte ich mehr Zeit auf diesem Planeten
ich würde ihn verändern
ich wäre geduldig. Warte noch einen Augenblick, noch ein bisschen
es ist ja noch Zeit. DU HAST JA NOCH ZEIT
Ich würde den richtigen Augenblick wählen
dann würde ich sie lostreten
die Welle, von der ich träume
die Flut, auf die wir warten
Aber noch wäre es nicht an der Zeit …

Hätte ich noch viel mehr Zeit auf diesem Planeten, wäre ich
aufmerksamer
liebevoller
mutiger
respektvoller
engagierter
geduldiger

habe ich dafür WIRKLICH keine ZEIT?

 

(Beitragsbild: Mein Bruder und ich, als die Zeit noch etwas war, das  sich vor uns unendlich ausgedehnt hat. Links im Bild: Die Hand meiner Mutter.)

  1. Tja, Du hast es wieder geschafft. Da lese ich den Blogartikel und es treibt mir die Tränen in die Augen weil es genau so ist. Wir verschanzen uns immer hinter dem “Keine Zeit” um Dinge nicht zu tun und Entscheidungen aufzuschieben.
    Dabei haben wir alle gleich viel Zeit, jeden Tag 86400 Sekunden. Und es liegt an uns wie wir diese nutzen. Wir können sie verplempern oder uns darüber aufregen wie schlecht die Welt ist und das übliche #mimimi.
    Oder wir nutzen sie um die Welt eben ein kleines Stück besser zu machen. Es ist allein unsere Entscheidung.

  2. Zeit ist auch für mich das vorherrschende Thema, und ich habe immer den Eindruck, dass Du Deine Zeit schon ziemlich gut nutzt im Vergleich zu mir! Dies als Ansporn und Anflug von Bewunderung!
    Ich denke mir auch oft, was ich doch alles umsetzen wollte und denken und schreiben und in Bilder fassen, gleich, ob gedankliche, durch Worte ausgelöste oder solche, die tatsächlich durch das Auge wirken.
    Ich fühle mich aber leider Woche für Woche vom Alltag übermannt, vom frühen Aufstehen, ausgiebigem Broterwerbsarbeiten und abendlicher Versorgung von Familie und Streichelzoo… Und danach?
    Ich bin auf der Suche nach der Energie, die ich benötigte, ab diesem Moment – von ca. 21.30 Uhr an – anzufangen, die Welt auf meine Art zu retten… Denn jetzt bin ich ganz bei Dir!

    Aber Danke! Dein Eintrag macht mir wieder bewusst, dass unsere Wirkensspanne eben begrenzt ist und – vor kurzem erst leidvoll erfahren – wirklich Je.Der.Zeit abgeschnitten werden kann. Also: nicht warten. Tun. Und scheint die Tat auch noch so klein.

    Gruß
    Jochen aka anmasijo

    • Kommentar des Beitrags-Autors

      Hallo Jochen! Danke Dir. Es ist allerdings immer so eine Sache mit der Wahrnehmung von außen – von innen fühlt sich manches ganz anders an.
      Nun muss man der Fairness halber sagen, dass dieser Text fast drei Jahre alt ist. Als ich es für mich heruntergebrochen hatte auf die letzten paar Zeilen, habe ich versucht, noch wesentlich mehr als vorher auch danach zu leben. Jetzt, drei Jahre später, sehe ich durchaus Fortschritte. 🙂

      Ja, unser eigener Wirkradius ist begrenzt. Aber er ist nie so begrenzt, wie wir glauben. Liebe Grüße an Dich!

  3. Versprochen ist versprochen, wenn’s auch manchmal länger dauert… Endlich wieder was fertig bekommen:
    http://www.gruenklecks.de/selbstverstaendlichkeiten/

    Liebe Grüße
    Jochen

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