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Alltag, Begegnungen

Begegnungen III

Bei der Erfindung des Automobils wurde erschreckend wenig an die Alpen gedacht. Oder an Schulferien. Und so hat Europa das ein- oder andere Nadelöhr, durch das eine zunehmende Zahl an Urlaubern zu mehr oder weniger gleichen Zeiten durch muss.
 

20 Kilometer vor dem Tunnel beginnt der Rückstau. In den letzten Strahlen der Abendsonne stellen wir die Motoren ab und öffnen die Autotüren. Nichts geht mehr, vorerst. Ein anderer Heidelberger schlendert zu uns herüber und fragt, ob wir etwas Genaues zum vor uns liegenden Tunnel wissen. Wir schütteln bedauernd die Köpfe, weder Googeln noch das Radio brachten eine brauchbare Erkenntnis. „Ferienende, vor Staus wird gewarnt!“ hieß es da nur. Ach. Der Heidelberger zuckt ein wenig ratlos mit den Schultern: „Wenn das so weiter geht, sehen wir uns morgen früh hier zum Frühstück“.

Nach zwei Stunden Stehen, unterbrochen von gelegentlichem, kollektiven Rucken um wenige hundert Meter nach vorne, beschließe ich, Zähne zu putzen. Neben mir am Fahrbahnrand der Fahrer unseres Nachbarautos. Er zieht an seiner Zigarette, ich habe den Mund voll Schaum. Wir grinsen uns an und nicken uns im Halbdunkel zu. Kaum noch ein Scheinwerfer eines parkenden Autos brennt. Wir stehen auf einer Brücke, unter uns Dunkel. Das Rauschen eines Flusses ist zu hören, gelegentlich übertönt von einigen wenigen Autos auf der Gegenfahrbahn.

Die Große steigt ebenfalls zum Zähneputzen aus, kommt zu mir an die Brüstung und wirft dem rauchenden Fahrer ein lautes „Hallo!“ entgegen. Er antwortet lächelnd und beginnt ein Gespräch über Ferien und Rückreisen, in ausgezeichnetem Deutsch. So wie er aussieht, hatte ich mindestens auf Südeuropäer getippt. Er erzählt der Großen, er brächte seine Familie nach Hause, nach Augsburg. Jaja, denke ich mir schmunzelnd, immer diese nordafrikanisch aussehenden Männer …

Die Automassen schieben sich ein weiteres Stück nach vorne, und dann noch eines. Jetzt kommt neben uns ständig ein kleines Auto voller junger Frauen zum Stehen. Die Fahrerin nutzt die Pausen ungewisser Länge, um sich aus dem geöffneten Fenster zu lehnen und ihren Kopf auf ihren Armen abzulegen. Dann sind von ihrem niedlichen Gesicht nur noch die Augen und die Nasenspitze zu sehen. Sie blickt müde die Straße hinauf und wieder zurück, und bewegt dabei nur die Augen. Ihre Reisebegleiterinnen unterhalten sich leise auf Slowenisch. Ich lächle der tapferen Fahrerin aufmunternd zu. Ihr Auto hat eine Gangschaltung, und mit Sicherheit keine Servolenkung. Das Fahren muss noch wesentlich ermüdender sein als das Navigieren des beinahe vollautomatischen Autos (aka „Das Schlachtschiff“), das der Gatte fährt.

Eine andere junge Frau steigt aus einem Fahrzeug mit niederländischem Kennzeichen und wühlt im Kofferraum. Als sie zu ihrem Freund zurückkehrt, hat sie eine Packung Frühstücksflocken dabei. Vermutlich wollten die beiden nach Villach halten und etwas essen. Nun müssen die trockenen Flakes reichen. Dankbar schiebt sich ihr Freund eine Handvoll davon in den Mund, während ich Decken und Kissen im Fußraum des Schlachtschiffs zu einer Art Minibett für die Kinder drapiere. Es ist mittlerweile halb 11, und ich habe beschlossen, dass sie unter diesen Bedingungen genauso gut im Liegen schlafen können. Ein Stück weiter turnt die europäische Jugend noch ein wenig zwischen den Autos herum, begleitet von Rufen der Eltern. Ich tue es einem jungen Mann gleich und gehe ein Stück durch die merkwürdige Umgebung voller geöffneter, aber abgeschalteter Autos spazieren. Die Gesichter der Autoinsassen sind manchmal von einem E-Book-Reader oder einem Smartphonedisplay beleuchtet. Auf der Straße stehen Grüppchen aus Fremden zusammen, manche lachen, andere tauschen Wasserflaschen aus, wieder andere flitzen mit Kleinkindern auf den Armen an mir vorbei – vermutlich auf der Suche nach einer Stelle, an der die Kinder unbemerkt an den Straßenrand pinkeln können. Ich zähle die Autos, die ich passiere, um später im Halbdunkel unser eigenes wieder finden zu können.

An der Tankstelle gegenüber hält ein Reisebus. Junge muslimische Frauen eilen zur Toilette. Vermutlich haben sie auf der anderen Seite des Tunnels genauso lange warten müssen. Ihre Kopftücher leuchten im Flutlicht der kleinen Tanke weiß zu uns herüber, und strahlend weiß liegen nun auf der anderen Seite die kleinen Lichter eines unbekannten Ortes.

Zwei weitere Stunden geht es kaum voran. Als eine kleine Fledermaus über unserem Auto auftaucht, zitiere ich „Fear and Loathing in Las Vegas“ („Hier können wir nicht halten. Das ist Fledermausland“). Aber der müde Gatte kann nur noch schief lächeln. Kurz nachdem ich eingeschlafen bin, erreichen wir den Tunnel. Fünf Stunden Warten und viele kleine Begegnungen liegen hinter mir. Die große Schicksalsgemeinschaft aus im Rückstau stehenden Europäern löst sich stillschweigend auf. Ab sofort gelten wieder die Gesetze der Autobahn.

Erst im Morgengrauen kapituliert der Gatte und lässt mich das Schlachtschiff fahren. In der Ruhe des anbrechenden Tages, nur unterlegt vom weißen Rauschen des Fahrzeugs auf dem Beton, begegne ich plötzlich diesem Text, den ich wohl bereits Stunden zuvor geschrieben habe. Auf einer Kuppe drehen sich derweil träge die Rotoren dreier Windräder. Wie ein zusätzlicher Beweis, dass sich die Menschheit ändern kann.

  1. Melanie

    Wunderbarer Text! Leider löst er das Rätsel nicht, warum man sich das antut. Jedes Jahr diesselben Staus, weil alle zugleich irgendwohin oder zurück wollen. Es sind schon viele Artikel über das “Leben im Stau” erschienen, das für nicht wenige offenbar zum Urlaubserlebnis dazu gehört.
    Warum nicht einen oder zwei Tage früher da entlang fahren?

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