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Unser Individualismus. Und was er mit #pegida zu tun hat

Hier ist ein Bild eines Fotos von Wegweisern an der innerdeutschen Grenze zu sehen. Mittlerweile kann an dieser entlang spaziert werden.

Der Mensch, dieses eigenartige Wesen. Diese seltsame Mischung aus Vernunft und Trieb. Seine Versuche zwischen Abgrenzung von und Nähe zu anderen. Die Träume und Schrecken, die Hoffnung und das Verzweifeln.

Jeder Mensch ist einzigartig. Aber nicht im Sinne einer neuzeitlichen Idee von Individualismus, sondern in Bezug auf seine DNA. Diese Kombination aus Aminosäuren gibt es auf dem gesamten Planeten nur ein einziges Mal.

In unserer Einzigartigkeit sind wir allerdings nicht dafür gebaut, uns alleine durchzuschlagen. Auch eine Wolfsrudelgröße reicht noch nicht. Wir sind keine Erfolgsmodelle der Evolution, wir brauchen andere Menschen, und davon sehr viele. Einen richtig großen Verbund anderer Menschen, mit ihren individuellen Fähigkeiten und Ausprägungen. Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft sogar immer mehr und mehr, denn die vielen spezialisierten Aufgaben unserer heutigen Industrienationen benötigen jede Menge Expertenwissen. Die Menschen werden zu immer kleineren Zahnrädchen im gesamtgesellschaftlichen Getriebe. Jedes einzelne wichtig, aber nur leistungsfähig im großen Ganzen.

Ein Staatensystem einer so beachtlichen Größe wie diejenigen, die wir „moderne Demokratien“ schimpfen, hat allerdings ein deutliches Interesse am kollektiven Vergessen. Am besten sollen die Zahnrädchen alle vergessen, dass sie auf einander angewiesen sind. Der Staat übernimmt die Rolle des Beschützers, Versorgers und Sprechers, ohne 1. und 2. tatsächlich leisten zu können. Aufgefangen von einem anonymisierten, weil institutionalisierten Verbund, der uns Sicherheit und Brot verspricht, verkapseln wir uns seit etwa 100 Jahren zunehmend in einer Isolation. Diese Isolation ist dem Menschsein an sich aber eigentlich fremd. Wir machen uns vor, alleine bestehen zu können – obwohl wir lediglich die Abhängigkeiten vertauscht haben. Waren wir vorher von den Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung abhängig, sind wir es jetzt von immer stärker zentralisierten Systemen.

 

Die Idee vom Individualismus ist die erfolgreichste Marketinglüge unserer heutigen Zeit.

Und sie wird nicht nur von Unternehmen und ihren Interessen eingesetzt, sondern auch von Staaten selbst. Wenn uns unsere DNA-gegebene Einzigartigkeit nur reichte! Stattdessen verkauft uns die Industrie nicht nur Konsumgüter, die uns das Leben ohne den Menschenverbund möglich machen. Sondern auch solche, die unseren Individualismus herausstellen sollen. Aus erfolgreichen Modellen solcher Vermarktungsaktionen werden irgendwann kulturelle Muster, die leider wesentlich schwerer wieder loszuwerden sind als ein Hipsterbart. So ist es bereits etabliert, Frauen mit gepresstem Kohlenstoff, der oft unter menschenunwürdigen Bedingungen abgebaut wird, zu beschenken. Eine aktuelle Marketingkampagne eines Schmuckherstellers in den USA wirbt darüber hinaus noch mit der „Einzigartigkeit jedes ihrer Schmuckstücke“ – der Diamant selbst tut es nicht mehr, er muss noch einmal ganz individuell verarbeitet werden, damit er auch zu der einzigartigen Trägerin passt. Die wird abends in einem schönen Restaurant damit beschenkt und reagiert mit Verzückungsschreien. Das Ganze muss für eventuelle außerirdische Beobachter so aussehen, als sei die Suche nach intelligentem Leben lieber woanders fortzusetzen. Aber ich schweife ab.

 

Ein Mensch, der viel konsumiert, ist ein kontrollierbarer Mensch.
Er nimmt Kredite für Dinge auf, begibt sich in verschiedene finanzielle Abhängigkeiten, und wird daher zusehen, dass er seinen Zahnrädchendienst einigermaßen ausfüllt. Was aber das Wesentliche ist: Man kann ihm erzählen, dass es da draußen Menschen gibt, die ihm alles wegnehmen wollen: Das Geld, die Arbeit, die Dinge. Man kann ihm Angst machen, so richtig effektiv Angst vor den anderen Menschen. Und dann kann man ihn noch viel besser kontrollieren.

In der Folge grenzt dieser Mensch sich ab. Rein physisch zum Beispiel, durch Sicherheitsvorkehrungen und Zäune. Mental, indem er alles, was nicht wie er selbst ist, abzulehnen beginnt. Ich stelle mir das wie eine leichte Form der Paranoia vor – hinter jeder gesellschaftlichen Veränderung wittert er die Bedrohung seiner Werte, seiner Sicherheit und den Verlust der Dinge, die er hat. Oder gerne noch hätte.

Dass Angst die Triebfeder für stark abgrenzendes menschliches Verhalten sein muss, haben wir hier in Bezug auf die AfD bereits diskutiert. Mittlerweile gibt es zum Beispiel dieses hörenswerte Interview mit einem Soziologen, der in Zusammenhang mit den #pegida-Demonstrationen über die Angst spricht. Angst als Grund für ein bestimmtes Verhalten ist ein schwieriger Fall, denn sie lässt sich mit rationalen Argumenten nur sehr schlecht wegdiskutieren. Sonst könnten wir im gemeinsamen Gespräch bewusster machen, wie sehr wir Menschen uns im alltäglichen Leben ständig aufeinander verlassen. Wie wir zum Beispiel ganz natürlich davon ausgehen, dass sich die meisten Menschen an die Verkehrsregeln halten. Oder anderen Menschen ganz grundsätzlich keinen Schaden zufügen möchten. Wir könnten darüber sprechen, wie wenige Menschen es braucht, um unser hübsch aufgebautes System einstürzen zu lassen. Und über die Machtlosigkeit des Staates in einem solchen Fall. (Jüngstes und tragisches Beispiel: 6 Terroristen waren trotz Militär, Polizei und Zäunen in Pakistan in der Lage, mehr als 130 Menschen zu töten, davon viele Kinder. Nur sechs.) Wir könnten vielleicht begreiflich machen, dass bei einem insgesamten Ausländeranteil von 4,7 % in Dresden, und ca. 0,1 % aktiven Muslimen in Sachsen die Gefahr einer Islamisierung des so genannten Abendlandes zumindest an diesem Ort schlichtweg albern ist. Und wir könnten alles rational erklären und sogar mit Zahlen belegen.

Das aber scheint wenig aussichtsreich. Seit unserer umfangreichen Diskussion denke ich darüber nach, was erfolgversprechender wäre. Diese Woche habe ich bei meinem Freund und Bloggerkollegen Dunkelangst zum Thema #pegida das Folgende gelesen:

Integration heißt im praktischen Alltag: Auf fremde Menschen (Ausländer, einen neuen Arbeitskollegen) zugehen. Wir haben Integrationsprobleme in Deutschland? Dann vielleicht nur deswegen, weil wir eben nicht auf fremde Menschen zugehen, sondern diese erst mal ausgrenzen. […] Menschen die auf die Straße gehen und Transparente hochhalten und “eine Pflicht zur Integration ins Grundgesetz” schreiben wollen, sollten doch am besten gleich weiter zur nächsten Moschee laufen und den Muslimen, die gerade angekommen sind, die noch nicht Deutsch können beim nächsten Friseurbesuch helfen. Oder beim Einkauf. Oder beim Stellen des Asylantrages.

Vielleicht liegt darin ein Lösungsansatz in beiden Richtungen. Anstatt den Menschen, die Angst haben, zu erklären, dass sie keine haben sollten, könnten wir mehr darüber sprechen, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Was diese „offene, diverse Gesellschaft“, die wir im Munde führen, bedeuten könnte. Vielleicht ist die offene Hand, von der Dunkelangst spricht, auch in diesem Fall die beste Möglichkeit, den Menschen wieder ein wenig Dankbarkeit für die eigenen Privilegien beizubringen. Und ihre eigenen Hände damit zu öffnen.

Falls Ihr Euch nun fragt, was ich denn geraucht haben könnte, lasst es mich klarstellen: Unter die Naziversteher bin ich nicht gegangen. Und wer ernsthaft glaubt, was die #pegida-Bewegung da so von sich gibt, ist einer. Aber wenn ich von unserer Einzigartigkeit spreche, und von unserem Verbund, und vom Aufeinander-Angewiesen-Sein, dann rede ich in Konsequenz auch von meiner eigenen Verantwortung. Und die besteht in der Vermittlung von Begriffen wie Integration und Gesamtgesellschaft, und im Eintreten für Werte wie Offenheit, Akzeptanz, Miteinander und Nächstenliebe. Claudia weist in diesem Zusammenhang auf zwei lesenswerte Texte hin. Und schließt sich der Ansicht an, dass es nötig ist, das Thema nicht zu ignorieren. Auf ihrem Blog schreibt die dort verlinkte Sherry an uns alle:

Aber wenn ihr euer Medium nicht nutzt, um wenigstens ein einziges Mal Stellung zu beziehen oder ein Gedankengut zu verbreiten, das eurem am nächsten ist, dann werdet ihr euch das verdammt nochmal vorwerfen, wenn wieder ein Asylantenheim brennt – und wenn alles, was darauf folgt, ein Déjà vu dessen ist, was eure Großeltern euch erzählt haben.

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Ich weiß nicht viel über die gesamtgesellschaftliche Lösung, die ich mir vorstelle. Eigentlich weiß ich darüber nur eines: Wir haben ohne die anderen um uns herum nicht die geringste Chance. Die Lösung ist eine kollektive. Sie kann nicht da entstehen, wo Menschen Angst vor einander haben. Auch nicht da, wo wir verständliche Angst vor einer so gefährlichen Bewegung wie #pegida entwickeln.

 

 

Mehr lesen zum Thema #pegida könnt Ihr bei der lieben Mittsommar, die viele Blogposts verlinkt hat. Und wer gerne was guckt, kann sich Hagen Rether anschauen. Der zeigte schon vor drei Jahren, wie das mit der Angstmache vor dem Islam in Deutschland zurzeit läuft – und wer sie befeuert. Für carta hat Christian Stahl über die Berichterstattung zu #pegida gebloggt – und findet deutliche Worte. Und über den Konsumwahnsinn hat Nathan vor kurzem etwas Passendes veröffentlicht.

Ich wünsche Euch ruhige und fröhliche Tage mit Euren Lieben.

  1. Falls Ihr Euch nun fragt, was ich denn geraucht haben könnte

    Ich weiß nicht, ob du etwas beim Schreiben von diesem Artikel geraucht hast. Was ich aber sehe ist, dass du Dir Gedanken machst. Und das finde ich gut. 😉

    Vielleicht ist die offene Hand, von der Dunkelangst spricht, auch in diesem Fall die beste Möglichkeit, den Menschen wieder ein wenig Dankbarkeit für die eigenen Privilegien beizubringen.

    Das kann ich nicht beurteilen. Was ich teilen kann ist ein Stück Lebenserfahrung:
    2011 war ich das erste Mal beruflich in Taiwan. Ein chinesisch sprachiges Land, 10 000 Km von zu Hause weg. Eines Abends bin ich mit meinen Taiwanischen Kollegen auf einen Nachtmarkt gegangen. Und ich habe es geschafft, meine Taiwanischen Kollegen aus den Augen zu verlieren. Kurz gesagt: Von jetzt auf gleich stand ich vollkommen orientierungslos auf einem mit Menschen angefüllten Platz, von denen niemand meine Sprache sprach. I got lost.

    Geholfen hat mir dann ein ca. 80 Jahre alter Mann, der ebenfalls nur chinesisch und kein Englisch und kein Deutsch sprach. Er kam mit seinem Spazierstock auf mich zugehumpelt und griff einfach nach meiner Hand und lies diese dann auch nicht los. Mit dem Spazierstock zeigte er in eine Richtung und diese sind wir dann auch gegangen. Wir ließen den Markt hinter uns und liefen ein paar Straßen geradeaus, dann ein paar Mal links und rechts und irgendwann standen wir vor einer Holzwerkstatt in der gerade gearbeitet wurde. Ein Tischler kam auf uns zu und redete mit dem Mann kurz auch chinesisch. Dann wendete er sich mir zu und fragte auf *Deutsch*:

    “Kann ich Dir helfen?”

    Ich gab ihm die Telefonnummer von meinen Taiwanischen Arbeitskollgen. Ein paar Minuten und einen Tee später wurde ich mit dem Auto abgeholt.

    Diese Dankbarkeit, die ich in dem Moment verspürt habe, verspüre ich noch heute. Und genau diese innere Dankbarkeit ist es, die mich inzwischen automatisch an jedem Bahnhof schauen lässt, ob vielleicht ein Asiate orientierungslos umher läuft und ob ich helfen kann. Wenn ich dann helfe, sehe ich in ihren Gesichtern die selbe Dankbarkeit die ich in Asien wohl in meinem Gesicht gehabt haben muss. Manche schreiben mir dann sogar noch Monate später E-Mails

    Aufeinander zugehen ist auf jeden Fall wohl nicht verkehrt. 🙂

    Schöne Grüße aus Taiwan! Bin da gerade mal wieder. 😉

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