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Das Netz und so, Internet und Gesellschaft

Katastrophe! Ausnahmezustand in sozialen Netzwerken

Hier die Hinterköpfe meiner zwei wunderbaren Töchter vor einem Laptop

 

“Twitter ist super 15 Minuten nach der Katastrophe, und die Hölle in den Tagen danach.”

Patrick Breitenbach

Für das Barcamp Rhein-Main im November 2015 habe ich eine Session zu Katastrophenkommunikation in sozialen Netzwerken zusammengestellt. Dabei strebte ich eine möglichst wertfreie Betrachtung der unterschiedlichen Phasen dieser Art persönlicher Krisenkommunikation an. Die Ereignisse in Frankreich lagen nur einige Tage zurück, weshalb mein Vorhaben eine große Bereitschaft bei den Teilnehmenden beinhaltete, ein paar Schritte auch von ihrer eigenen Beteiligung zurückzutreten. Denn schließlich waren die meisten von uns in den vorhergehenden Tagen mehr oder weniger aktive Kommunikationsteilnehmende gewesen. Eine gemeinsame Analyse, so frisch nach den Terroranschlägen, setzt die Fähigkeit voraus, auch die eigene Betroffenheit, Hilflosigkeit, Wut oder Kritik hinten an zu stellen. Auf dem Barcamp ist das hervorragend geglückt. Dafür noch einmal Danke an alle Teilnehmenden!

Da gerade in den letzten Wochen erneut alles, was ich im November vorgestellt habe, beobachtbar wurde, ist der Zeitpunkt günstig für einen ausführlicheren Blogpost über die Session. Die Phasen, die ich im Folgenden vorstellen möchte, habe ich aus aktuellem Anlass um eine weitere, optionale Phase ergänzt. Auf eine Anschlussdiskussion mit den Teilnehmenden wäre ich jetzt erneut sehr gespannt. Vielleicht beim nächsten Barcamp? Kommt Ihr nach Heidelberg? 🙂

Phasen der Kommunikation in sozialen Netzwerken. Schock, Trauerkritik, Catcontent

Die Katastrophe ist eingetreten, was passiert als nächstes?

  1. Erstinformation, Verifizierung, Schock: Nach den ersten Meldungen zur Katastrophe gehen immer mehr Menschen online. Die schiere Masse an Tweets und Postings reicht für die meisten oft als Verifizierung des Ereignisses aus – ein Umstand, der sich in manchem Zusammenhang später als fatal herausstellt (Beispiel: Der vor dem LaGeSo angeblich Verstorbene im Dezember 2015). Im Fall der Attentate in Paris, unser Beispiel im November, zeichnete sich allerdings schnell der Sachverhalt ab. Es überwiegen in dieser Phase Desinformation, Orientierungs- und Fassungslosigkeit.
  2. Trauer, Wut, Betroffenheit: Es wird klarer, was stattgefunden hat. Genaue Informationen lassen noch auf sich warten, dafür wird wild spekuliert. Je nach medialer Teilhabe an der allgemeinen Hysterie (Ein Beispiel für medial gelenkte Hysterie ist z.B. der GermanWings-Absturz 2015) schaukeln sich Theorien hoch. Bei den meisten Menschen überwiegen nun Trauer, Wut und Betroffenheit. Die ersten Aufrufe zu Mahnwachen werden gestartet.
  3. Kritik an der Betroffenheit, „Trauerkritik“: Eine kommunikativ sehr spannende Phase schließt an. Nachdem die zweite Phase leicht abebbt, wird die Kritik an der Betroffenheit deutlicher. Kommunikationsteilnehmende kritisieren aus unterschiedlichen Gründen die Anteilnahme in sozialen Netzwerken. Oft richtet sich ein Großteil der Kritik an die Fassungslosigkeit oder an Maßnahmen wie den häufig beobachtbaren Profilbildwechsel. Sehr häufig wird Kommunikationsteilnehmenden Heuchelei vorgeworfen.
  4. Kritik an der Kritik an der Betroffenheit: Die Kritik an der Betroffenheit wird extrem kritisch, z.T. auch sehr böse diskutiert. Den Kommunikationsteilnehmenden, die sich kritisch äußerten oder andere als Heuchler bezeichneten, wird Zynismus vorgeworfen. Oft findet parallel eine Metadiskussion um das Thema Moral statt, die meist mit dem konkreten Ereignis wenig zu tun hat. Ein normaler Diskurs ist in dieser Phase beinahe unmöglich, stattdessen gibt es eine beobachtbare Lagerbildung.
  5. Beruhigung, Zunahme an reflektierenden Beiträgen: Einige Tage nach der Katastrophe beruhigt sich die emotional sehr aufgeladene Atmosphäre in den Netzwerken. Artikel und reflektierende Postings werden geteilt, Diskurs untereinander scheint wieder möglich zu sein.
  6. Optionale Phase: Eine zweite Katastrophe tritt ein, die mit der ersten nicht in einem Zusammenhang steht. Dieses Ereignis wird, obwohl sehr schlimm, von den übersättigten Kommunikationsteilnehmenden aus verschiedenen Gründen nicht so stark beachtet wie das erste Ereignis. Das Fehlen von massenhaften Solidaritätsbekundungen führt zu einer zum Teil sehr heftigen Wiederaufnahme der Phasen drei und vier. Lange Wutreden über die angebliche Nicht-Beachtung, heftige Vorwürfe, Gefühle nur vorzutäuschen, Diskussionen und Entfreundungen sind in dieser Phase besonders häufig.
  7. Katharsis: Katzencontent und Essensbilder: Nachdem sich die Kommunikation über die Katastrophe weiter beruhigt hat, taucht der für einige Tage vernachlässigte Inhalt wieder auf. Zu früh gestreute Katzenbilder werden oft kritisiert. Ist Catcontent wieder sozial akzeptiert, ist die Katastrophe offiziell vorbei.
  8. Erneute Katastrophe, der Zyklus beginnt von vorn.
Haufenweise Unverständnis. Was vereinen soll, teilt plötzlich

Während in den ersten beiden Phasen vor allem Solidaritätsbekundungen zu lesen sind, sowie Ausdrücke der eigenen Fassungslosigkeit etc., sind vor allem Phase drei und vier dieser besonderen Form der Krisenkommunikation geprägt von Miss- und Unverständnis zwischen den Kommunikations-teilnehmenden. Dabei wiederholen sich die kommunikativen Muster immer wieder aufs Neue. Es ist, als  ob wir aus unserem eigenen kommunikativen Verhalten nicht das Geringste lernen. In der Session diskutierten wir mögliche Gründe hierfür.

Auffällig ist, dass über das eigentliche Thema (Katastrophe, Hintergründe, Auswirkungen, mögliche Hilfe) meist nur sehr wenig gesprochen/ geschrieben wird. Der Großteil der (Online-) Kommunikation nach einer Katastrophe dreht sich um das Verhalten der anderen Kommunikationsteilnehmenden. So scheinen wir alle eine genaue Vorstellung zu haben, wie im Fall einer Katastrophe zu reagieren sei. Viele Menschen nutzen ihre Netzwerke dazu, ihre eigene Hilflosigkeit, Trauer oder Wut zu kommunizieren – zunächst ohne weitere Absicht. Davon allerdings fühlt sich eine andere Gruppe, die an der Kommunikation teilnimmt, sozial kontrolliert. Avatar- und Profilbildwechsel wirken auf diese Gruppe wie eine Art kollektiver Zwang zur Trauer. Einige ziehen sich aus der Kommunikation zurück, andere kritisieren die Trauerreaktionen und ecken damit zum Teil in ihrem Netzwerk stark an. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen unter Postings oder in twitter-Streams. Dabei lassen sich einige wiederkehrende Argumente isolieren:

Aber die Kinder in Afrika!

Das „Heute darf nicht gesprochen werden“-Argument: Aus Wut, Trauer und Solidarität, manchmal aber auch aus schlichter Gereiztheit, argumentieren Kommunikationsteilnehmende mit anderen, dass ein Rückzug aus der Kommunikation angeraten wäre. Wobei bereits diese Äußerung ganz offensichtlich keinen Rückzug aus der Kommunikation darstellt, sondern eher als Belehrung und Zurechtweisung aufgefasst wird. Das Argument hinterlässt das Gefühl, dass der Gebrauch sozialer Netzwerke in Krisenzeiten ungeschriebenen Regeln folgen muss.

Das „Heute ist keine themenfremde Kommunikation möglich“-Argument: Oft als rhetorische Frage formuliert, werden Kommunikationsteilnehmende auf die schlimmen Ereignisse hingewiesen, wenn sie thematisch nicht passende Beiträge veröffentlichen. „Wie kannst Du heute, an diesem Tag einen Cappuccino posten?“ Das Argument hinterlässt das Gefühl, dass es bei der Kommunikation in sozialen Netzwerken ein anlassgebundenes „richtig“ und „falsch“ gibt.

Das „Aber die Kinder in Afrika!“-Argument: Aus anderen Zusammenhängen bekanntes Argument gegen Solidarisierung, Betroffenheit und Engagement jeglicher Art. Der Äußernde übt Kritik an in seinen Augen übertriebener Trauer, und rechnet vor, wie viele schrecklichere Ereignisse jeden Tag passieren. Das Argument hinterlässt oft das Gefühl, Katastrophen könnten objektiv kategorisiert werden, um dann die Angemessenheit der Trauer eines Einzelnen zu beurteilen.

Auch in unserer Diskussion bildeten sich die entsprechenden Lager, die z.B. darauf hinwiesen, wie nervig die Profilbildwechsel seien, wie groß der Unterschied in der Wahrnehmung verschiedener schlimmer Ereignisse u.s.w.. Dennoch konnten wir viele Punkte miteinander (fast) wertfrei besprechen. Dabei schälte sich für mich persönlich folgendes Fazit heraus:

Kommunikation über die Kommunikation ist ebenfalls ein Signal eines Kommunikationsbedürfnisses. 

Das war etwas fix, ich möchte das erklären: Bei unseren drei Argumenten oben wird schnell deutlich, dass Menschen, die nicht über das Ereignis sprechen wollen, es in aller Regel einfach nicht tun. Oft ziehen sie sich sogar komplett aus den Netzwerken zurück und bewältigen ihre Gefühle und Gedanken alleine. Bereits der Hinweis auf die Katastrophe, egal in welcher Form er auch passiert, zeigt ein Kommunikationsbedürfnis. Dieses Kommunikationsbedürfnis ist in beinahe allen Fällen durch eigene Hilflosigkeit motiviert, selbst bei den Trauerkritikern. Heftige Kritik an den Solidaritätsbekundungen anderer und Vorwürfe der Heuchelei sind, anders als wir meinen könnten, nur selten von dem Wunsch zu polarisieren getrieben. Oft sind sie ebenso wie Ausdrücke von Fassungslosigkeit, Wut oder Trauer Bekundungen der eigenen Ohnmacht. Ein eigentlich verbindendes Gefühl also spaltet sich in der Kommunikation darüber auf und trennt uns letztlich von einander.

Mit den Teilnehmenden der Session machte ich am Ende ein kleines Gedankenexperiment. Ich bediente mich dafür des folgenden Bildes:

me-on-facebook-homer-simpson-everyone-with-french-flag-as-profile-picture

Dazu bat ich alle Zuhörenden, sich für einen Moment in die Rolle zu begeben, die sie selbst in der zurückliegenden Woche in den sozialen Netzwerken NICHT eingenommen haben. Und sich dann zu fragen, wie sich das für diese Gruppe vielleicht angefühlt hat. Homer steht hier für eine Gruppe, die sich von den sozialen Netzwerken Ablenkung erhofft. Die gerne über Sport, die Ehefrau oder die Ereignisse des alltäglichen Lebens reden möchte, und sich nun einer sozialen Kontrolle ausgesetzt fühlt, auf die sie auf unterschiedliche Weise reagieren kann (wie oben beschrieben z.B. Rückzug oder offensive Zurechtweisung der anderen). Seine Freunde mit Flaggen-Avatar stehen für die Gruppe von Menschen, die online gehen, weil sie auf diese Weise ihr Kommunikationsbedürfnis über die Katastrophe mitteilen möchten. Der Avatarwechsel signalisiert, dass sie darüber auf eine bestimmte Weise – solidarisch, trauernd, betroffen – sprechen wollen oder müssen. Es kann sehr heilsam für die gemeinsame Kommunikation sein, für einen Moment auch die jeweils andere Perspektive einzunehmen.

Schon klar jetzt. Aber worüber SOLLTEN wir denn reden?!?

Um nicht ausschließlich über den Ist-Zustand der Kommunikation zu sprechen, schloss ich ein paar Vorschläge an, worüber wir sprechen und was wir tun können, wenn wir es mit einer Katastrophe via Social Media zu tun haben:

  1. Wenn eine Katastrophe eintritt, ist es wichtig, den Informationsfluss nicht zu behindern. Das heißt z.B., dass man die entsprechenden Hashtags in den Netzwerken nicht zumüllt. In Paris gab es damals die hilfreiche Aktion #porteouvert. Leider war der Hashtag schnell nicht mehr lesbar, weil so viele Menschen ihren Zuspruch zu der Aktion ausdrücken wollten – und dafür den gleichen Tag benutzten.
  2. Um auf hilfreiche Aktionen oder gute Informationen hinzuweisen, sind Retweets oder Reposts wesentlich sinnvoller als eigene Äußerungen. So bleiben die Streams lesbar und die Informationen können besser gefiltert werden.
  3. Jede geteilte Information sollte überprüft werden, z.B. durch eine kurze Google-Anfrage (vor allem bei Bildern hilfreich), ein Anschalten der Nachrichtensender im Fernsehen, oder ein Nachschauen, ob große Nachrichtenseiten bereits über das Ereignis berichten. Eine Falschinformation kann Konsequenzen haben, und da wir via Social Media alle Medien machen, sollten wir die Grundlagen journalistischen Arbeitens zumindest im Katastrophenfall kennen und beachten. Aufklärung hilft hier weiter, und die wenigen Extraklicks sind im Grunde nicht viel verlangt.
  4. Medienethik diskutieren, und zwar möglichst nicht im Auge des Sturms selbst, sondern davor: Was kann, was soll ein Medium leisten, und wie wollen wir es benutzen? Gibt es einen Konsens? Viele Menschen machen sich z.B. nur unzureichend Gedanken über das Teilen von Leichenbildern. Doch Minderjährige nutzen die sozialen Netzwerke ebenfalls, und auch Angehörige könnten in den Streams plötzlich ihre vermissten Familienmitglieder wiedererkennen. Auf eine extrem traumatisierende Weise. Das sollte, ja, das muss diskutiert werden, und zwar so wenig emotional aufgeladen wie möglich.
  5. Achtsamkeit üben: Annehmen, dass nicht jeder Kommunikationsteilnehmer andere mit seinem Verhalten absichtlich vor den Kopf stoßen möchte. Sich darauf besinnen, was uns in einem solchen Fall eint, nämlich Trauer. Egal, wie diese Trauer aussieht und geäußert wird. Denn es gibt kein falsches Trauern im Netz, ebenso wenig wie ein richtiges. Hinweise an andere Teilnehmende an der Kommunikation sollten wir immer möglichst achtsam formulieren. Niemand möchte via Social Media zurechtgewiesen und gemaßregelt werden.
  6. Vorbereitet sein: Sich über diese Dinge Gedanken machen, und zwar schon im Vorfeld. Katastrophen werden wir immer wieder erleben müssen, und es ermüdet und frustiert, den gleichen Zyklus immer wieder zu erleben. Vor allem, wenn wir eigentlich um das Potential der Netzwerke wissen.

Als Schlusswort, sowohl für unsere Debatte als auch für diesen Blogpost, hat der Phänomeme-Blog etwas sehr Treffendes geschrieben:

„Wir üben! Wann immer eine Debatte darüber entfacht, wie man soziale Netzwerke richtig zu benutzen habe, muss man sich daran erinnern: Wir üben! Der Umgang mit Facebook und Twitter, das Veröffentlichen von (privaten) Fotos und auch das öffentliche Trauern nach Meldungen, die viele betroffen machen, muss geübt werden. Es gibt keine Vorgänger-Generation, die vorlebt, wie das geht.“

Also, seid nachsichtig mit Euch und den anderen. 🙂 Ich hoffe, wir können darüber bei nächster Gelegenheit noch weiter diskutieren.

 

Lesenswert hierzu:

Sascha Lobo über den GermanWings-Absturz

Margarete Stokowski über behutsames die-Fresse-Halten

Alena Dausacker über Technik- und Medienkompetenz

Johannes Korten, in aktuellem Zusammenhang, über richtige und falsche Empathie und die Übergriffigkeit mancher

Felix Beilharz über Social Media und den Terror

Gilly Berlin über Social Media und den Terror 🙂

Johnny Häusler mit Gedanken nach Paris

Der Volksverpetzer, der sein Profil nicht blau-weiß-rot färben möchte

Deniz Yücel für die Welt über Trauer-Erbsenzählerei

Ich selbst über #jesuischarlie und #jenesuispascharlie

Der Phänomeme-Blog über das Üben

rp15-Talk von Friedemann Karig über Medienethik

Bob Blume über nervendes Twitter

Interessant aus Unternehmersicht oder für Social-Media-Teams: Interview mit Patrick Breitenbach

  1. ein ganz ganz ganz ganz gaaaaanz toller beitrag, liebe juna! ich habe es gerne (nochmal) gelesen 😉

  2. ein sehr schöner artikel zu dem thema. das meiste davon hat mich auch schon beschäftigt. dieses ständige urteilen über andere, was richtig oder falsch ist, hat in dem zusammenhang wirklich ausname angenommen, die kaum noch akzeptabel sind.

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